„Unfinished Business“ und Holocaust-Erinnerung

Die Geschichtspolitik der USA und die Transformation der Holocaust-Erinnerung in den 1990er Jahren
Vortrag und Diskussion mit Jan Surmann (Hamburg)

Freitag, 02.02.2007
Ab 19 Uhr, Villa Ichon (Kaminzimmer), Goetheplatz 4, 28203 Bremen

Die Implosion der osteuropäischen Staatengemeinschaft – und damit das Ende der Nachkriegszeit – hat in der Auseinandersetzung mit den Folgen der nationalsozialistischen Raub- und Vernichtungspolitik zu einem einschneidenden Paradigmenwechsel geführt. Sowohl entschädigungs- wie auch restitutionspolitische Mängel der Nachkriegszeit wurden in den 1990er Jahren unter dem Schlagwort des „unfinished business“ international thematisiert und ihre Klärung gefordert. Die handlungsorientierte Geschichtspolitik der USA, die sich im Kontext der Forderungen jüdischer Organisationen nach Restitution in Osteuropa herausentwickelte, hat in diesem Prozess eine zentrale Rolle gespielt: Sie hat über die Ausübung politischen, ökonomischen und juristischen Drucks nicht nur elementar zum Abschluss diverser Fonds und Stiftungen – und damit zur materiellen Aufarbeitung – beigetragen, sondern erinnerungspolitisch eine Transformation der Shoah-Erinnerung hin zu einer Entkontextualisierung und Universalisierung gerade auch auf internationaler Ebene maßgeblich vorangetrieben.

Ein wichtiges Merkmal dieser US-Geschichtspolitik war, dass nicht allein auf eine materielle Lösung gedrängt wurde, sondern auch auf eine geschichtspolitische Aufarbeitung der restitutions- und entschädigungspolitischen Versäumnisse der Nachkriegszeit. Die Kritik der USA an den nationalen Nachkriegsmythen leitete einen Paradigmenwechsel ein, der die großen restitutionspolitischen Erzählungen der Nachkriegszeit delegitimierte. Es war eben diese Debatte, die den europäischen Staaten von den USA aufgedrängt wurde, die den Prozess einer Internationalisierung des Gedenkens und einer Entkontextualisierung der Shoah stark vorantrieb, indem sie die Selbstwahrnehmung der westlichen Länder in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen radikal veränderte. Dabei bildet die Auseinandersetzung mit den nationalen Nachkriegsmythen die Matrix, auf der sich der Holocaust als Schlüsselereignis für eine neue Erinnerungsform herausbildet und neue gemeinsame Bezüge jenseits des Nationalstaats herstellt. Die Shoah wurde in diesem Prozess zu einem Exemplum für genozidale Tendenzen, das das spezifisch Historische in den Hintergrund treten ließ. Damit setzte sich nach dem Ende des Kalten Krieges eine Verbindung von Menschenrechtspolitik und Holocaust-Erinnerung durch. Auf Grundlage ihrer Enthistorisierung und Dekontextualisierung bekommt die Shoah an der Jahrtausendwende eine erhebliche gesellschaftliche Orientierungsfunktion in zentralen gesellschaftspolitischen Fragen, die im Kontext eines allgemeinen Menschenrechtsdiskurses gerade auch außenpolitisch zur Anwendung kommt.

Die Debatten und Auseinandersetzungen der 1990er Jahre sind somit nicht nur rückwirkend für die Auseinandersetzung mit den Folgen des Nationalsozialismus von Relevanz, sondern sie können auch als ein wichtiges Scharnier für die diskursive Begründung einer neuen geschichtspolitischen Epoche verstanden werden. Die Shoah wurde in ihrer enthistorisierten und dekontextualisierten Form zum Angelpunkt eines neuen Erinnerungs-Narrativs für das 21. Jahrhundert, das sich auf das Selbstverständnis der gesamten westlichen Welt auswirkt. Die Debatten über „Auschwitz“ als negativen europäischen Gründungsmythos belegen dies eindrucksvoll.

Jan Surmann, Hamburg, ist Geschichtswissenschaftler und geht mit seiner Dissertation der Frage nach, wie und warum offene Restitutions- und Entschädigungsfragen nach der bipolaren Weltordnung thematisiert wurden und vor allem wie sich dadurch international die Holocaust-Erinnerung transformierte (Stichwort Dekontextualisierung).

Literaturhinweis zum Vortrag:
Jan Surmann: „Unfinished Business“ und Holocaust-Erinnerung. Die US-Geschichtspolitik der 90er-Jahre zwischen „Holocaust-era assets“ und Menschenrechtsdiskurs. In: ZfG – Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 4/2005, S. 345–355.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „27. Januar – Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“, von Erinnern für die Zukunft e.V., Landeszentrale für politische Bildung Bremen und anderen