Kein Wunder an der Weser

Die Wahlen in Bremen (und Berlin) vor dem Hintergrund der Strategieentwicklung der LINKEN

von Christoph Spehr

Wahrscheinlich war schon lange niemand mehr so aus dem Häuschen darüber, das Ergebnis der letzten Landtagswahl gehalten zu haben, wie die LINKE am 14. Mai 2023 in Bremen. Stefan Reinecke brachte es in der taz auf den Punkt:

„Die Linkspartei hat in Bremen ihr Ergebnis von 2019 ungefähr gehalten. Dieser Satz ist faktisch zutreffend – verfehlt aber das Wesentliche. Denn dieses Resultat ist ein kleines Wunder. Rund 11 Prozent haben in Bremen links gewählt – und damit fast sieben Prozentpunkte mehr, als die Partei in Umfragen im Bund derzeit erreicht. Das ist äußerst ungewöhnlich.“[1]

Ein Zeichen, keine Trendwende

Dass die LINKE sich bei der Bremen-Wahl derart weit vom Bundestrend abkoppeln konnte, ist, wie die ganz ähnlich gelagerte Berlin-Wahl drei Monate vorher, von großer bundesweiter Bedeutung. Es zeigt: Für eine LINKE, die durch konkrete Politik überzeugt, mit positiven Botschaften auftritt, sich im Feld links der Mitte verortet weiß, der Gesellschaft fortschrittliche Problemlösungen anbietet und dabei auch zur Übernahme von Regierungsverantwortung bereit ist, gibt es einen Bedarf. Ob es für eine LINKE, die an populistische Erklärungen und Positionen anschließt, vorwiegend negative Erfahrungen und Anklagen artikuliert, sich besonders scharf von SPD und Grünen abgrenzt und das politische Links-rechts-Schema tendenziell durch ein Eliten-gegen-Volk-Schema ersetzt, ebenfalls einen Bedarf gibt, weiß man nicht. Aber dass die Version der LINKEN, die in Bremen und Berlin angeboten wurde, für die LINKE nicht nur überlebenssichernd, sondern auch aussichtsreich ist, ist mit den beiden Landtagswahlen empirisch geklärt. Das gilt für die Bremen-Wahl ganz besonders, denn sie war die erste Landtagswahl nach der Ankündigung von Sahra Wagenknecht, künftig nicht mehr für die LINKE kandidieren zu wollen.[2]

Das bedeutet allerdings keine bundesweite Trendwende. Denn die Bremen-Wahl zeigt auf der anderen Seite sehr deutlich: Solche Ergebnisse lassen sich derzeit nur erzielen, wenn es gelingt, das bundesweite Bild der LINKEN durch eine landespolitische Überschreibung weitestgehend zu überdecken. Das ist aktuell fast nur aus der Sichtbarkeit einer Regierungsbeteiligung zu erreichen, mindestens aber mit einer hohen landespolitischen Präsenz und einem extrem bekannten, verankerten und beliebten Personalangebot auf Landesebene, das aus der Praxis Vertrauen schafft. Diese Möglichkeiten stehen vielen Landesverbänden nicht zur Verfügung, insbesondere denen nicht, die keine Landtagsfraktionen haben. Ihre Chancen haben sich durch die Wahlen in Bremen und Berlin nicht verändert und können sich nur verbessern, wenn das Bild der Partei auf Bundesebene verändert wird.

Die Antwort. Foto von Christoph Spehr

Das kommt am klarsten in einer Zahl aus den Befragungen zum Ausdruck. 72 Prozent aller Befragten im Land Bremen stimmen der Aussage zu: „Die LINKE ist im Bund zu zerstritten, um Dinge wirklich voranzubringen.“ Auch von denen, die in Bremen die LINKE gewählt haben, sagen das ebenfalls 72 Prozent, exakt genauso viele.[3] Drei Viertel der LINKE-Wähler*innen in Bremen haben also die LINKE gewählt im vollen Bewusstsein, dass sie der Partei auf Bundesebene derzeit nichts zutrauen – und sie dort überwiegend nicht wählen würden.

Das Wahlergebnis: Rot-Grün-Rot behauptet sich trotz Verlusten der Grünen

Anders als in Berlin hat es in Bremen keine Verschiebung zwischen den Lagern gegeben. Die rot-grün-rote Koalition hat insgesamt 1 Prozent abgegeben, das bürgerliche Lager mit CDU und FDP ebenfalls. 1 Prozent gewonnen haben die Rechtspopulisten, und ebenfalls die sonstigen Parteien, vor allem dadurch, dass Volt – also eine linke Partei – auf Anhieb 2 Prozent erreicht hat. Es hat also weder eine Rechts- noch eine Linksverschiebung stattgefunden.[4]

Während in Berlin die Zufriedenheit mit der aktuellen Regierungskoalition mit 24 Prozent den niedrigsten Wert bei allen Landtagswahlen der letzten zwei Jahre aufwies, lag die Zufriedenheit mit der Bremer Koalition immerhin bei 41 Prozent. Das war deutlich besser als in Berlin oder bei der Bremen-Wahl 2019, im Ländervergleich ebenfalls sehr niedrig, für Bremen aber nicht ungewöhnlich. Die Unzufriedenheit konzentrierte sich vor allem auf die Bereiche Bildung, Verkehr und Wohnen. Während der Bremer Senat in der Corona-Krise sehr hohe Zustimmungswerte erzielte[5], war die Zufriedenheit mit dem Management der anschließenden Kriegs- und Preiskrise offenbar deutlich geringer – trotz einiger Maßnahmen zum sozialen Ausgleich, die den Koalitionspartnern von der LINKEN abgetrotzt wurden, wie etwa die Ausweitung des Sozialtickets auf Wohngeld- und Kinderzuschlagshaushalte, die Preisstabilität bei den Studi-Wohnheim-Mieten und beim Schul- und Kita-Essen, und eine quartiersnahe Info-Kampagne, um die aktive Inanspruchnahme von Leistungen und Entlastungsmaßnahmen zu fördern.[6]

Stimmenverschiebungen erfolgten vorwiegend innerhalb der Regierungskoalition. Die stärkste Dynamik ging dabei von der Zustimmungskrise der Grünen aus. Die Grünen gaben drei Prozent an die SPD und ein Prozent an die LINKE ab, die wiederum ein Prozent an die SPD verlor. Gegenüber den Umfragen ein Jahr vor der Wahl, bei denen die LINKE bei 8-10 Prozent lag[7], hat offensichtlich eine Rückbewegung von Grünen zur LINKEN eingesetzt. Dass Wähler*innen, die sich von den Grünen abwenden, bei der LINKEN ankommen, ist allerdings kein Automatismus, sondern eine eigenständige Leistung. Die SPD profitierte stark vom Amtsbonus ihres sehr beliebten Ministerpräsidenten Andreas Bovenschulte. Ein Drittel der SPD-Wähler*innen gab an, dass sie die SPD ohne Bovenschulte nicht wählen würden.[8]

Zwischen CDU und FDP hat sich nichts bewegt. Die FDP verliert knapp 1 Prozent durch überdurchschnittlich schwache Nichtwähler-Mobilisierung, die BIW (jetzt „Bündnis Deutschland“) holen 1 Prozent von der CDU.

Die Grünen verlieren mit 11,9 Prozent ein Drittel ihres Ergebnisses von 2019 (minus 5,5 Prozent). Das Ergebnis von 2023 ist für die Grünen das schlechteste bei einer Bremer Landtagswahl seit 1999. Umfragen zur Mitte der Legislaturperiode, als die Grünen auch bundesweit Höchstwerte erzielten, zeigten die Grünen noch bei über 20 Prozent und fast gleichauf mit der SPD. Dabei hatten die Grünen als Partei und die grüne Spitzenkandidatin und Senatorin Maike Schaefer damals schon sehr schlechte Zustimmungs- und Beliebtheitswerte bei der Gesamtheit der Wähler*innen. Sie konnten aber das ihnen zugeneigte Umfeld voll mobilisieren, also von der Polarisierung an ihren Themen profitieren – gemäß der Formel: „Nur 19% sind mit der Arbeit der grünen Verkehrs- und Bausenatorin Maike Schaefer zufrieden – aber die wählen alle grün.“[9]

Das änderte sich, als die Grünen auf Bundesebene in den Umfragen verloren, und zwar überproportional. Die dramatischen Verluste kamen zustande, weil die Kritik an der grünen Bundespartei (Heizungstauschgesetz; Preissteigerung als Mittel in der Gaskrise, auch ärmere Haushalte zum Energiesparen zu zwingen) und die Unzufriedenheit mit den Grünen auf Landesebene (Verkehrsversuche, Kulturkampf gegen das Auto, keine Entlastungen in der Preiskrise) sich gegenseitig verstärkten.

Während die Bremer LINKE lange Erfahrung damit hat, sich gegen Zustimmungskrisen auf Bundesebene zumindest teilweise abzuschotten, schlugen die Bremer Grünen exakt in dieselbe Kerbe wie die Bundespartei: Kompromisslosigkeit, fehlende soziale Empathie, ideologische Fixierung auf Kernklientel, Polarisierung zwischen Milieus, plus schlechte Kommunikation und handwerkliche Fehler. Im Ergebnis verloren die Grünen besonders stark in Ortsteilen mit geringeren Einkommen, höherer Arbeitslosigkeit und höherer SBG-II-Quote. Gleichzeitig verloren die Grünen gegen die LINKE den wichtigen Kampf um die beweglichen Stimmen aus der „adaptiv-pragmatischen Mitte“.[10]

Die Wahlbeteiligung ist gegenüber 2019 zurückgegangen (von 64,1 auf 56,9 Prozent). Damals lag sie so hoch wie seit den 1990ern nicht mehr, weil es eine starke Pro- und Contra-AfD-Mobilisierung gab, wie bei den meisten Landtagswahlen um diese Zeit. Verglichen mit 2015 ist die Wahlbeteiligung 2023 wieder gestiegen und liegt etwa auf dem Niveau von 2011 und 2007. Die LINKE hat 2023 anteilig ähnlich viele Nichtwähler*innen gewonnen und verloren, wie die anderen Parteien, mit Ausnahme der Rechtspopulisten, die überdurchschnittlich viele Nichtwähler*innen mobilisieren konnten. Die Spaltung der Wahlbeteiligung nach privilegierten und benachteiligten Stadtteilen ist stark und hat gegenüber 2019 noch weiter zugenommen. In 6 von 88 Bremer Ortsteilen und in 6 von 22 Bremerhavener Ortsteilen liegt sie 2023 unter 40 Prozent; 2019 war das nur in 1 Bremer Ortsteil und in 2 Bremerhavener Ortsteilen der Fall.   

Die AfD war aufgrund ihrer internen Spaltungen, die in der Einreichung von zwei konkurrierenden Listenvorschlägen gipfelte, nicht zur Landtagswahl zugelassen worden (und ficht daher die Wahl an). Damit war der Weg frei für die rechtspopulistische Wählervereinigung „Bürger in Wut“ (BIW), die seit 2007 in Bremen antritt und seither regelmäßig im Wahlbereich Bremerhaven über die 5-Prozent-Hürde und damit in den Landtag kommt.[11] Die freigewordenen AfD-Stimmen gingen in den Umfragen sofort auf die BIW über, nachdem bekannt war, dass die AfD nicht zur Bürgerschaftswahl antreten darf. Mit 9,4 Prozent erzielten die BIW landesweit ein Prozent mehr als die Summe aus AfD und BIW bei der Wahl 2019. In Bremerhaven wurden sie mit 22,7 Prozent zweitstärkste Partei vor der CDU, ein Plus von 6 Prozent gegenüber der Summe aus AfD und BIW 2019.

Die Ergebnisse der BIW (die nach einer entsprechenden Fusion künftig als „Bündnis Deutschland“ firmieren) in den Bremer Ortsteilen korrelieren positiv mit niedrigem Durchschnittseinkommen, hoher Arbeitslosenrate und hohem SGB-II-Anteil. Unter den sozialen Gruppen wird sie von Arbeitern am stärksten gewählt (17 Prozent). Ähnlich hohe Ergebnisse (16 Prozent) erreicht sie auch bei Wähler*innen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht einschätzen, und bei Wähler*innen mit niedrigen Bildungsabschlüssen. In Bremerhaven gehören zu den stärksten BIW-Ortsteilen aber auch solche mit auffallend geringen sozialen Problemlagen. Bei der parallel stattfindenden Wahl zu den Beiräten, den Bremer Stadtteilparlamenten, schnitt die BIW noch stärker ab als bei der Landtagswahl. Die Erfahrung, dass die Tabu-Schwelle gegenüber der Wahl rechtspopulistischer Parteien auf kommunaler oder gar Stadtteil-Ebene niedriger liegt als bei Landtags- und Bundestagswahlen, bestätigt sich.

Zur Zusammensetzung der LINKEN-Wähler*innenschaft

Das Wahlergebnis der LINKEN zeigt insgesamt keinen Zusammenhang mit den sozialen Strukturdaten der Stadt- und Ortsteile. Dies lässt sich am sogenannten „Bremer Wahlatlas“ gut überprüfen, der für die einzelnen Ortsteile Bezüge zwischen Wahlergebnissen und sozialen Strukturdaten darstellt.[12] Es gibt keine signifikante Korrelation der regionalen Wahlergebnisse der LINKEN mit der Höhe von Arbeitslosigkeit, SGB-II-Anteil oder Migrationshintergrund, auch nicht mit der Abiturientenquote oder dem mittleren Einkommen im Ortsteil.[13] Die LINKE erzielt ihre höchsten Ergebnisse und ihre meisten Stimmen in den innerstädtischen urbanen Lagen, wo sie stark mit den Grünen konkurriert. In den benachteiligten Quartieren erzielt sie etwa durchschnittliche Ergebnisse; dort konkurriert sie hauptsächlich mit der SPD. Unterdurchschnittlich liegt sie in den bürgerlich-gemischten Stadtteilen.

Das deckt sich mit dem (in Nachwahlbefragungen abgefragten) Wähler*innen-Verhalten nach Beruf/Tätigkeit.[14] Bei einem durchschnittlichen Ergebnis von 11 Prozent erzielt die LINKE unter Beamten 8 Prozent, unter Rentner*innen 9 Prozent, unter Arbeiter*innen ebenfalls 9 Prozent, unter Angestellten 10 Prozent und unter Selbständigen 13 Prozent. Unter dem Gesichtspunkt der Repräsentation sozialer Interessen ist die deutlich gestiegene Zustimmung bei Selbständigen gut, denn fast die Hälfte der Selbständigen im Land Bremen sind Soloselbständige, und etwa 45 Prozent der Selbständigen erzielen Jahresumsätze unter 100.000 Euro. Die LINKE ist neben den BIW die einzige Partei, die bei Wähler*innen, die ihre eigene wirtschaftliche Lage als weniger gut/schlecht einstufen, besser abschneidet (13 Prozent) als bei Wähler*innen die ihre wirtschaftliche Lage als gut/sehr gut einschätzen (10 Prozent). Der Unterschied ist bei den BIW allerdings deutlich stärker ausgeprägt (16 Prozent zu 8 Prozent).

Die LINKE erzielt leicht höhere Zustimmung bei Frauen als bei Männern und höhere Zustimmung bei jüngeren Altersgruppen (unter 35 Jahren), wie bundesweit auch. Sie ist stärkste Partei bei Frauen unter 25 Jahren (21 Prozent) und in drei zentral gelegenen Bremer Ortsteilen (Ostertor, Steintor, Fesenfeld, 25-28 Prozent).

In 7 der 8 Bremerhavener Ortsteile, die durch überdurchschnittliche Kinderarmut, tendenziell häufigere Meldungen von Kindeswohlgefährdung und tendenziell höhere Ausländer*innen-Quoten gekennzeichnet sind, schneidet die LINKE überdurchschnittlich ab. Die 5 besten Ortsteil-Ergebnisse der LINKEN in Bremerhaven liegen allesamt in diesen Ortsteilen. In 2 davon (Grünhöfe, Leherheide-West) konnte die LINKE gegenüber 2019 sogar zulegen, in 2 anderen dagegen (Klushof, Geestendorf) waren die Verluste überproportional.[15]

Sozial Betroffene wählen die LINKE, aber nicht stärker als andere

Es zeigt sich damit ein doppelter Befund. Einerseits lässt sich feststellen: Dass die LINKE Lohnabhängige, Geringverdienende, Betroffene von sozialer und sozialräumlicher Spaltung nicht mehr erreichen würde, trifft nicht zu. Dass die LINKE die sozial Benachteiligten und wirtschaftlich Abhängigen systematisch nicht erreichen würde, stimmt ganz einfach nicht.

Andererseits lässt sich feststellen: Die LINKE wird auch nicht überproportional von ihnen gewählt, wie es eigentlich Ziel und Anspruch einer linken Partei sein muss. Das ist das Ergebnis einer langfristigen Entwicklung, bei der überdurchschnittliche Mobilisierung in diesen Zielgruppen sich auf durchschnittliche Mobilisierung verändert hat.

Bei der Landtagswahl 2007 erzielte die LINKE in Bremen 8,4 Prozent. Unter Arbeiter*innen waren es damals 13,7 Prozent, unter Erwerbslosen 20,1 Prozent. Dieser Vorsprung nahm bereits mit der nächsten Landtagswahl 2011 und danach kontinuierlich ab. In Bremen hat sich, durch die sehr starken Ergebnisse in den innerstädtisch-urbanen Ortsteilen und die niedrige Wahlbeteiligung in den benachteiligten Quartieren (den sogenannten „WiN-Gebieten“), der Anteil der „prekären“ Ortsteile am Gesamtstimmenaufkommen der LINKEN kontinuierlich verringert, obwohl dort teilweise immer noch überproportionale Ergebnisse nach Prozenten erzielt werden.

Man kann diese Entwicklung als Normalisierung bewerten. Der LINKEN ist es in Bremen (wie in Berlin und anderen Bundesländern) zunehmend gelungen, auch in Ortsteilen, Gruppen und sozialen Milieus gewählt zu werden, die ursprünglich durch starke Vorbehalte davon abgehalten wurden: Frauen, Ältere, Kleinselbständige, sozial gemischte Wohnlagen. Umgekehrt war ein Teil des Vertrauensvorschusses bei Arbeiter*innen und sozial Benachteiligten objektiv nicht einlösbar, weil Hoffnungen auf eine sofortige Änderung der eigenen Lage durch die Wahl der LINKEN nicht zu erfüllen waren.

Man kann die Entwicklung aber auch so bewerten, dass der LINKEN aktuell eine starke und mobilisierende Botschaft insbesondere in diese Wähler*innengruppen hinein fehlt, wie sie 2007 mit dem Mindestlohn, der Abschaffung der Hartz-Gesetze, der Rückkehr zur Tarifbindung und der Abschaffung der Leiharbeit vorhanden war. Vermutlich treffen beide Bewertungen einen Teil der Realität. In der Tat hat die LINKE hier in Bremen in der Regierungsverantwortung geliefert, was ging: Der Mindestlohn wurde nicht nur 2019 auf 12 Euro erhöht (und im Dezember 2022 auf 12,29 Euro), sondern an die unterste Entgeltgruppe im öffentlichen Dienst gekoppelt, was – wenn der TV-L sich in etwa so entwickelt wie der TVÖD-Abschluss – in 2024 zu einem Landesmindestlohn von über 14 Euro führen wird. Bei der Tarifbindung öffentlicher Aufträge wurde der Rahmen des rechtlich möglichen voll ausgeschöpft, mit Tarifbindung auch für Dienstleistungen und für EU-weite Ausschreibungen.[16] Aber für eine erneuerte Botschaft, die unmittelbare Verbesserungen für große Gruppen in Aussicht stellen würde, fehlen derzeit bundesweit die weitergehenden Forderungen. Das Set von Forderungen aus der Gründungszeit hat sich verbraucht, es ist teilweise eingelöst und teilweise überholt.[17]

In puncto Arbeitsplatzsicherung wurden, in enger Zusammenarbeit mit Betriebsräten und Gewerkschaften, in Bremen wichtige Erfolge erzielt: Etwa der Zukunftssicherungsvertrag bei Airbus, der Erhalt des Karstadt-Standortes und die Förderungen für die Wasserstoff-Transformation der Stahlwerke. Das für die Wirtschaftsentwicklung vor Ort wichtige Stadtteilmarketing wurde verstärkt und es wurden Maßnahmen ergriffen, um die an der Bodenrendite orientierte Verdrängung von gewachsenem Gewerbe durch Wohnbebauung zu stoppen. Während sich allerdings bei den Selbständigen die Landeshilfen und das gute Corona-Management in höherer Zustimmung zur LINKEN niedergeschlagen haben, ist dies bei Arbeiter*innen und benachteiligten Quartieren nicht der Fall.

Der Verlust des überproportionalen Zuspruchs bei Arbeiter*innen und Erwerbslosen und die Annäherung der Ergebnisse bei diesen beiden sozialen Gruppen auf das Durchschnittsniveau der LINKEN-Ergebnisse ist ein langfristiger, bundesweiter Prozess. Bei den Bundestagswahlen 2009 wählten Arbeiter*innen und Erwerbslose noch stark überproportional die LINKE (18 bzw. 25 Prozent). Dieser Vorsprung nivellierte sich bis zur Bundestagswahl 2021 in einem kontinuierlichen Prozess. Der Prozess beginnt Anfang 2012, also noch unter der Amtszeit der Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch und Klaus Ernst (und der stellvertretenden Parteivorsitzenden Sahra Wagenknecht), und setzte sich unter Katja Kipping und Bernd Riexinger fort. Während die Landtagswahlen 2011 hier noch kein klares und einheitliches Bild ergeben, ist die überproportionale Abnahme bei Arbeitern und Arbeitslosen bei allen drei Landtagswahlen im März bis Mai 2012 (NRW, Saarland, Schleswig-Holstein) sehr deutlich zu sehen.[18]

Das verweist darauf, dass es sich um eine langfristige Entwicklung handelt, die ihre Wurzeln in grundlegenden Verschiebungen hat, die unabhängig sind von der innerparteilichen Ausrichtung einzelner Bundesvorstände. Sie wird jeweils durch Streit auf der Bundesebene katalysiert, da diese beiden sozialen Gruppen weniger Toleranz für innerparteiliche Differenzen haben als andere, und sie kann regional unterschiedlich ausfallen. Aber die Tendenz geht tiefer, als dass sie sich durch strömungspolitische Korrekturen aufhalten oder gar umkehren ließe.

Stärker im Zentrum, schwächer an der Peripherie

Auffallend ist, dass die Ergebnisse der LINKEN in Bremerhaven deutlich schlechter ausfallen als in Bremen-Stadt. Für das Bremische Stadtgebiet fällt das LINKE-Ergebnis mit zunehmender Entfernung vom Stadtzentrum in konzentrischen Kreisen bis zum Rand kontinuierlich ab – mit wenigen Ausreißern wie Lesum oder Tenever. Während es wie erwähnt keinen Zusammenhang zwischen räumlichen Sozialdaten und Wahl der LINKEN gibt, besteht eine deutliche geografische Stratifikation des LINKE-Ergebnisses: Je zentraler die Lage, desto stärker das LINKE-Ergebnis; je peripherer, desto schwächer.

Auch hierfür gibt es zwei mögliche Deutungen, die beide einen Teil der Wahrheit abdecken dürften. Die eine ist, dass mit dem zunehmenden räumlichen Abstand vom politischen Zentrum und mit der sinkender konkreter Erfahrbarkeit der LINKEN auch das Wahlergebnis sinkt. Die Kraft, das bundespolitische Bild der LINKEN durch landespolitischen Auftritt und Personal zu überdecken, nimmt zu den Rändern des Wahlgebiets hin ab. Wer nur die Bundespartei wahrnimmt, wählt die LINKE derzeit nicht. Das war bei früheren Wahlen anders, jetzt ist es das durchgängige Muster.

Die höhere Sensitivität des Zentrums für die konkrete Landesperformance hatte sich auch bei den Bremer Wahlen 2011 gezeigt, nur umgekehrt. Damals fielen die anteiligen Verluste in den zentralen innerstädtischen Lagen besonders stark aus, während sie sich zu den Stadtgrenzen hin abflachten. Dass die LINKE mit ihrer ersten Landtagsfraktion keinen guten Job machte, wurde dort besonders stark abgestraft, wo Landespolitik präsenter ist und aktiver verfolgt wird. Die (negative) Überschreibung durch das landespolitische Bild funktionierte also auch damals nach einem stadträumlichen Aufmerksamkeits-Gefälle.

Für Bremerhaven kommt hinzu, dass die LINKE hier zwar landespolitisch regiert, aber im Gegensatz zu Bremen-Stadt nicht an der Kommunalregierung beteiligt ist. So wirken sich zwar landespolitische Erfolge aus – etwa die erst unter der linken Ressortverantwortung gelösten Probleme der Neubauförderung für das kommunale Klinikum Reinkenheide, der Landesmindestlohn oder die Wirtschaftspolitik –, aber nicht die kommunalpolitischen Erfolge (Verbilligung des Sozialtickets, Gesundheitszentren, Housing First usw.).

Die zweite mögliche Deutung ist, dass in Bremerhaven, Bremen-Nord und städtischen Randlagen Bremens solche Aspekte der sozialen Frage besonders wichtig sind, die derzeit politisch kaum repräsentiert sind und auch von der LINKEN wenig aufgegriffen werden: Infrastrukturelles Abgehängtwerden, Abwertung traditioneller/veralteter Qualifikationen und Codes, ökonomische Benachteiligung von Familien mit Kindern. In der Tat ist z.B. einer der wenigen Sozialfaktoren, mit denen das LINKE-Ergebnis stark negativ korreliert, der Anteil von Familien mit Kindern an der Gesamtbevölkerung. Er ist in den städtischen Randgebieten deutlich höher ist als im Zentrum. Auch hier gilt: Von einer echten Abwanderung von der LINKEN kann man in Bremen 2023 auch in diesen Randgebieten nicht sprechen. Aber dass die Bindungswirkung durch die konkrete Politik der LINKEN hier schwächer ist als in den innerstädtischen Bereichen, ist in den Ergebnissen deutlich sichtbar.

Ursachen für das gute Abschneiden der LINKEN

Die Ursachen für den Bremer Wahlerfolg der LINKEN werden von außerhalb der Partei relativ übereinstimmend gesehen (und wiederum ähnlich wie in Berlin): Bekannte, beliebte und für ihre Leistung anerkannte Spitzenkandidatinnen; Abgrenzung von der Bundespartei; konkrete Reformpolitik mit realen Erfolgen in der Regierungsbeteiligung; selbstbewusstes Auftreten; Verzicht auf überzogene Polarisierung; Verbindung von sozialem Anspruch und vernunftorientierter Politik; gute Kompetenzwerte als Fraktion und Partei; hohe Geschlossenheit.[19] Diese Faktoren werden auch in den Wahlanalysen aus der LINKEN und ihrem Umfeld in der Regel geteilt.[20]

Diese Einschätzung dürfte so zutreffen. Bereits Mitte der Legislaturperiode wurde deutlich, dass die beiden Senatorinnen der LINKEN außerordentlich hohe Zustimmungswerte für ihre Arbeit erreichten. „Dass die Linke nun doch wieder Chancen hat, in der Regierung zu bleiben, dürfte vor allem an zwei Namen liegen: Kristina Vogt und Claudia Bernhard.“ (Röhlig, Spiegel) Beide profilierten sich in der ersten Hälfte der Legislatur durch erfolgreiches Krisenmanagement in der Corona-Pandemie, in der zweiten Hälfte durch wichtige Reformprojekte (Ausbildungsumlage, Krankenhausreform, Wasserstoffstrategie, Sicherstellungsgesetz Schwangerschaftsabbruch), und generell durch ihren lösungsorientierten, erklärenden Stil. Die LINKE erfüllte damit die wichtige Funktion, inhaltliche und praktische Orientierung in der Krise anzubieten. „Die Krise hat die Dominanz des Neoliberalismus infrage gestellt, DIE LINKE konnte das nutzen.“ (Rave)

Damit gelang Vogt und Bernhard ein weites Ausgreifen in Wähler*innen-Potenziale, die der LINKEN bislang eher skeptisch gegenüberstehen. Bei der Wahl erzielten beide ein starkes Personenstimmen-Ergebnis: Platz 3 bzw. 5 hinter Bovenschulte und dem Spitzenduo der CDU, vor allen anderen Senatsmitgliedern außer Bovenschulte, weit vor den Spitzenkandidat*innen von Grünen und FDP. In welchem Umfang und gegenüber welchen Parteien die LINKE dabei auch von Stimmensplitting profitieren konnte, lässt sich erst aus den Ergebnissen der repräsentativen Wahlstatistik des Landeswahlamts beurteilen, die noch nicht vorliegen. Kommentare wie der Leserkommentar (online) zur Umfrage 2021 sind jedenfalls in Bremen nicht ungewöhnlich: „Hier in Bremen würde ich CDU oder Linke wählen. Mein Herz ist schwarz, aber die ordentliche Arbeit der Bremer Linken muss anerkannt werden.“[21]

Die fachpolitischen Kompetenzen, die der LINKEN zugeschrieben werden, ähneln sich in Bremen und auf Bundesebene, wenn man die jeweiligen Nachwahlbefragungen 2023 bzw. 2021 vergleicht. Die höchsten Kompetenzen werden bei der LINKEN in den Bereichen soziale Gerechtigkeit, bezahlbares Wohnen und Gesundheitspolitik gesehen. Es gibt allerdings zwei bedeutsame Abweichungen. In Bremen sagen 8 bis 9 Prozent, die LINKE sei die Partei mit der höchsten Wirtschaftskompetenz – das ist bemerkenswert viel. 52 Prozent aller Befragten stimmen der Aussage zu: „Senatorin Kristina Vogt hat in Bremen gezeigt, dass die Linke auch Wirtschaft kann.“ Die zweite Abweichung betrifft die Corona-Politik. Bundesweit findet nur 1 Prozent der Befragten, dass die Linke die beste Corona-Politik macht. In Bremen liegt der Wert achtmal so hoch.[22]

Die LINKE bewegt sich in Bremen somit dicht am bundesweiten Markenkern der Partei: soziale Gerechtigkeit und ein aktiver, handlungsfähiger Staat. Entlang dieser Verortung verliefen auch die Konflikte in der Regierungskoalition mit Grünen und SPD. Das wurde auch medial so wahrgenommen, etwa in der Auseinandersetzung um die Krisen-Hilfen in der Energiepreiskrise.[23] „DIE LINKE hat Verbesserungen umgesetzt und das meiste aus der Regierungsbeteiligung rausgeholt. Auch dadurch hat sie viel von dem Wähler*innenpotenzial für eine links-sozialdemokratische Partei ausschöpfen können.“[24]

Hohe persönliche Zustimmung zu Ministerinnen muss sich nicht automatisch in Stimmen für die Partei bei Wahlen umsetzen. Gerade in den ersten beiden Jahren gab in Medien und Öffentlichkeit häufig die Lesart, Vogt und Bernhard würden gute Arbeit machen, obwohl sie Linke sind. Die Partei bemühte sich daher systematisch um die Gegenerzählung, dass Vogt und Bernhard auch deshalb gute Arbeit machen, weil sie Linke sind. Denn das Agieren der linken Senatorinnen sei davon gekennzeichnet, die soziale Frage und die Bereitschaft zur staatlichen Intervention in den Mittelpunkt zu stellen: Bei der Impfkampagne, bei der wirtschaftspolitischen Bewältigung der Pandemie, bei den Gesundheitszentren in den benachteiligten Stadtteilen, bei Tarifbindung und Ausbildungsumlage.

Geschlossenheit ist ein Prozess

Differenzen und Konflikte mit Initiativen, Bewegungen und Gewerkschaften hat die LINKE im Hinblick auf die Bremer Wahlen relativ gut überstanden. Zu nennen wären etwa die Bürgerinitiative für den Erhalt der Platanen in der Neustadt, von deren Ziel die Partei abrückte; die Solidaritätsbewegung für Geflüchtete, die mit Kompromissen wie dem zur Landeserstaufnahmeeinrichtung (reduzierte Belegung, Umbau) nicht zufrieden sein konnte; die Bürgerinitiative gegen die Ansiedlung einer Bahnwerkstatt in Gröpelingen; oder die Kritik von ver.di am Stellenabbau beim kommunalen Klinikverbund. Unterm Strich wurden transparente Kommunikation und der Einsatz für Kompromisse zumindest teilweise anerkannt. In der Neustadt erzielte die LINKE eines ihrer stärksten Stadtteil-Ergebnisse 2023. In Gröpelingen kandidierte ein prominentes Mitglied der BI auf Platz 1 der Beiratsliste.

Der Landesverband zeichnet sich insgesamt – in Regierung, Fraktion, Partei – durch einen sehr solidarischen Stil aus. „Es ist nicht einfach, Bremer Linke zu finden, die sich wenigstens ein bisschen hassen.“[25] Es gelingt, Konflikte auszutragen, ohne dass es reißt. Als einer der Kandidierenden und bisherigen Abgeordneten, Olaf Zimmer, sich mit einer Personenstimmenkampagne vor allem friedenspolitisch, aber auch in Bezug auf die Regierungsbeteiligung von der Wahlkampflinie absetzte, setzte man sich zusammen und redete über rote Linien. Die hielten auch: Die Differenz wurde sichtbar, aber Beschimpfungen und Diffamierungen fanden nicht statt. Zimmers Kampagne war erfolgreich: 1.700 Personenstimmen (also umgerechnet 350 „ganze“ Wähler*innen) reichten für ein Bürgerschaftsmandat – allerdings nur, weil die LINKE wieder regiert (in Bremen scheiden Senatorinnen als Abgeordnete aus und es wird nachgerückt), was eine kleine ironische Wendung ist.

Die Erfahrung aus der ersten Legislaturperiode 2007-2011 sitzt dem Landesverband in den Knochen; damals gab es massive, offen ausgetragene Konflikte zwischen Fraktion und Partei, was zur Abwahl des größten Teils der bisherigen Abgeordneten bei der Aufstellung, aber auch einem extrem schlechten Wahlergebnis führte. Strömungen werden eher skeptisch gesehen. Es wird viel Zeit in innerparteiliche Diskussion investiert. Die Koordination des strategischen Zentrums ist eng; seit der Regierungsbeteiligung findet eine wöchentliche Abstimmungsrunde zwischen Senatorinnen, Fraktionsvorsitzenden und Landesvorsitzenden statt. Wo Veränderungen im Landesverband sich in Verschiebungen bei Wahlen zum Landesvorstand oder in Entscheidungen bei inhaltlichen Abstimmungen niederschlagen, wird trotzdem der Dialog gesucht. Das ist alles keine Erfolgsgarantie, aber das Rezept lautet: Geschlossenheit ist ein Prozess. Sie kann nicht verordnet werden, sondern ist das Ergebnis dessen, wie man miteinander arbeitet.

Für die Wahlkampagne arbeitete der Landesverband erstmals nicht mehr mit der Berliner Stammagentur der LINKEN, DiG Plus, zusammen, sondern entschied sich für eine Bremer Agentur, Moskito. Die Strategie setzte darauf, mit dem zu arbeiten, was man hat: Starke Personalisierung auf Vogt und Bernhard, die als Spitzenduo präsentiert wurden; eine Kampagne, die sich im Design deutlich vom Bundes-Design absetzte, weicher und ansprechender wirkte und unter dem Titel „Das neue Rot“ sowohl die Eigenständigkeit als auch den sozialen Markenkern betonte; sowie der Appell an taktisches Wählen: „Damit aus Mitte-Links nicht nur Mitte wird.“

Es gibt eigentlich nur zwei spezifische strategische Dogmen, die sich im Landesverband herausgebildet haben und die besondere Situation als Stadtstaat und West-Landesverband spiegeln. Erstens: Man darf sich gegenüber den Grünen in Fragen wie Klima oder Menschenrechten keine politischen Blößen geben, weil sonst die volatilen Stimmen in den urbanen Milieus ins Rutschen kommen. Und zweitens: Was man politisch vorschlägt, muss inhaltlich Hand und Fuß haben, weil sich das als probates Mittel gegen antikommunistische Vorbehalte bewährt hat.[26] Darüber hinaus gibt es bekannte und bewusste Schwächen, bei denen die LINKE in Bremen bislang nicht weiterkommt. Für eine flächendeckende Vor-Ort-Arbeit, mit Haustürwahlkampf, regelmäßig geöffneten Stadtteilbüros, Sozialberatung und Präsenz in Stadtteilstrukturen fehlt die Kraft, die Mitgliederzahl und der richtige Ansatz. Und in bestimmten politischen Feldern, von der Bildungspolitik bis zur Armutsbekämpfung, fehlen aktualisierte Strategien, die tatsächlich den Weg zu einer grundsätzlichen Veränderung der Lage aufzeigen würden. All das sind Grenzen, bei deren Überwindung das Wähler*innenpotenzial erheblich weiter ausgebaut werden könnte.

Ein Rezept für die Bundespartei?

An dieser Stelle stellt sich die Frage: Wieso macht es die LINKE nicht überall so wie in Bremen (oder Berlin), und wieso insbesondere nicht auf Bundesebene? Es ist immerhin auffallend, dass für Strategiedebatten in der Bundespartei alle möglichen ausländischen Parteien bemüht werden – die KPÖ, Podemos, Syriza, die Bernie-Sanders-Kampagne, die PTB in Belgien usw. – während eher selten gefragt wird, was sich aus Bremen, Berlin, Thüringen, Hamburg oder Mecklenburg-Vorpommern lernen lässt.

Es handelt sich bei dem, was in Bremen oder Berlin funktioniert hat, ja um keine besonders ausgefallene Strategie. Zweifellos haben sich die beiden linken Senatorinnen Vogt und Bernhard als außerordentlicher Glücksfall erwiesen. Aber auch in anderen Landesverbänden gibt es leistungs- und ausstrahlungsfähiges Personal. Die Kompetenzprofile der LINKEN ähneln sich bei den letzten Wahlen in Berlin, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Hamburg oder Thüringen. Überall ist „soziale Sicherheit“ die zentrale Erwartung der Wähler*innen an die Partei. Aus dem früheren Ost-West-Gefälle bei den Wahlergebnissen der LINKEN ist ein Stadt-Land-Gefälle geworden. Aber Städte gibt es überall; knapp ein Drittel der deutschen Bevölkerung lebt in Großstädten mit über 100.000 Einwohner*innen. Thüringen, wo die LINKE die höchsten Landesergebnisse erreicht, ist das Land mit der niedrigsten Bevölkerungsdichte. Berlin ist nach der Einwohner*innen-Zahl das achtgrößte Bundesland (und Hamburg größer als Mecklenburg-Vorpommern).

Die Behauptung, alle guten Wahlergebnisse der LINKEN auf Landesebene wären Spezialfälle, die sich nicht übertragen lassen, trägt nicht. Aber während von außen eher der Modellcharakter der Landesverbände, die stabil abschneiden, für eine Gesamtstrategie der LINKEN gesehen wird, wird innerhalb der Partei und ihres engeren Umfelds eher auf die Nichtübertragbarkeit dieser Strategien abgehoben.

In der Partei ist seit Langem die Haltung stark, dass man gern anders gewinnen möchte, als die genannten Landesverbände es vormachen. Das hat zwei wesentliche Ursachen. Zum einen hat die Partei nach wie vor kein geklärtes Verhältnis zur Frage, wie sie ihre programmatischen Ziele langfristig durchsetzen will, insbesondere zur Option des Erlangens von Regierungsmacht. Zum anderen dominiert die Auffassung, dass grundsätzliche Strategiefragen, vor denen die Partei steht, andere Antworten benötigen würden als die, die sie in den stabilen Landesverbänden bislang gibt. Beides ist näher zu betrachten.  

Die Debatte um Regierungsbeteiligung: Ein linkes Unikat

Christian Lindners Diktum „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“[27], gilt für alle Parteien. Regieren ist kein Wert an sich, es beinhaltet Chancen und Risiken. Parteien können sich in der Regierung stärken oder verbrauchen, sie können an Überzeugungskraft gewinnen oder an Glaubwürdigkeit verlieren. Und ohne die Option, nein zu sagen, könnte man gar keine Verhandlungen führen. Opposition ist verführerisch. Man muss sich nicht zu allen Themen verhalten. Man muss mit Bewegungen, Umfeldern, organisierten Interessen nicht in den Konflikt darüber gehen, dass nicht alles funktioniert, was sie fordern, dass Veränderungen eine Frage von Kräfteverhältnissen sind, und dass sie nicht allein auf der Welt sind. Man kann sich den Luxus erlauben, mit etwas gröberen Zuspitzungen zu arbeiten und notfalls Kritik von der Stange zu liefern. Und Opposition ist auch einfach weniger anstrengend.

So weit, so gut. Dass die LINKE jedoch unverändert darüber diskutiert, ob man die Option des Regierens als Partei grundsätzlich ausschließen sollte, entweder aus Prinzip oder „für mindestens ein Jahrzehnt oder länger“[28], ist ein Unikat und erklärungsbedürftig.

Da eine linke Partei zu wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen in Opposition steht, wird sie immer den Wert und Nutzen der Übernahme von Regierungsmacht genauer und kritischer bewerten müssen als andere Parteien. Konformitätsdruck; eine schleichende Überschreibung der eigenen programmatischen Ziele durch das, was angesichts von Sachzwängen oder Kompromissen real praktiziert wird; die Fokussierung von Kraft, Ressourcen, Personal, Anstrengung auf unmittelbare Lösungen und die damit einhergehende Vernachlässigung von Programm, Strategie, Parteientwicklung, Milieubildung; Verzettelung; Übervorsicht in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung: All das sind berechtigte Sorgen und Probleme, die bearbeitet werden müssen.

Andererseits gilt: Den Kurs eines Flugzeugs kann man nicht wirklich beeinflussen, wenn niemand anders bereit ist, die Kiste zu fliegen. Sich auf Kritik am Piloten zu beschränken, wird irgendwann schal und verliert seine Wirkung. Es ist der harte Kern sozialistischer Gesellschaftsauffassung, dass die gesellschaftlichen Konflikte irgendwann nur auf der Ebene der politischen Macht gelöst werden können. An einer verabsolutierten Bewegungspartei, die nichts anderes macht als was Bewegungen auch machen, haben diese auf Dauer kein Interesse.

In der Linken hält sich ein hartnäckiger Vulgär-Gramscianismus, der das Verhältnis von Hegemonie und Exekutivmacht als ein strikt zeitlich gestaffeltes Hintereinander sieht. Erst wenn die gesellschaftlichen Mehrheiten stehen, die Kräfteverhältnisse eindeutig sind, sich linke Überzeugungen breit in der Gesellschaft durchgesetzt haben, könne demnach der Schritt auf die Ebene von Regierungsmacht erfolgen. Das aber ist realitätsfern und wird nie passieren. Hegemonie entsteht nicht pädagogisch, sondern dadurch, dass sich eine programmatisch ausgerichtete Kraft bei der Lösung von konkreten Fragen, die alle betreffen, bewährt. Sie entsteht über erfolgreiches Leadership beim Management realer Probleme. Das beginnt in der Opposition, mit einer Politik, die kontinuierlich alternative Handlungsmöglichkeiten propagiert – nicht für die Vergangenheit oder eine ferne Zukunft, sondern hier und jetzt. Warum sollte jemand einer politischen Kraft folgen, die schon von vorneherein erklärt, dass sie zu einer praktischen Veränderung von Verhältnissen weder bereit noch imstande ist?

Eine Erbschaft aus der Gründungsgeschichte der Partei

Dass sich die Idee, eine Partei zu konstituieren, die keine exekutive Macht erringen will (obwohl das die letztliche Begründung der Organisationsform „Partei“ ist[29]), in der LINKEN so dauerhaft hält, lässt sich nur historisch erklären. Die Frage der Durchsetzungsstrategie wurde bei der Gründung der LINKEN ausgeklammert. Faktisch bestand der Gründungskonsens darin, dass zwei (unausgesprochene) separate Strategien mittlerer Reichweite in Ost und West koexistieren durften. Die Ost-Strategie zielte auf Regierungsbeteiligung als Instrument, um die Partei vom Stigma der DDR-Partei zu befreien, ihre Anerkennung als ‚normale‘ politische Kraft zu erreichen und damit auch stellvertretend ihre Wähler*innenschaft aus der symbolischen Abwertung der ungleichen deutschen Wiedervereinigung zu befreien. Daher war Regierungsbeteiligung hier zunächst tatsächlich ein Wert an sich, über den Beitrag zur Durchsetzung konkreter programmatischer Ziele hinaus.

Die West-Strategie bestand darin, die SPD durch Konkurrenz von links unter Druck zu setzen und wieder nach links zu drängen und sich damit auch ehemaligen SPD-Anhänger*innen als Instrument anzubieten, die SPD für ihre Kurswechsel zu bestrafen. Dafür war Opposition das Mittel der Wahl, da nur so der Schaden für die SPD (keine Regierungsmacht außer als Juniorpartner der CDU) maximiert und die Selbststilisierung der LINKEN (quasi als „SPD vor dem Sündenfall“) aufrechterhalten werden konnte. Beide Strategien, Ost und West, hatten ihre Ergebnisse und ihre Grenzen, aber beide waren Strategien auf Zeit. Nach der zweiten Bundestagswahl unter Beteiligung der LINKEN, 2009, verbrauchten sie sich zügig. „Beide bislang gebräuchlichen Haupt-Strategien sind erschöpft und überholungsbedürftig (…) Es wird Zeit, beide Strategien als gefährlich zu erkennen, weil sie letztlich auf ‚fremden Interessen‘ basieren, die auf Dauer nicht ausreichen, das Überleben der Partei zu sichern.“[30]

Das Grundsatzprogramm der Partei, das erst 2011 auf dem Erfurter Parteitag beschlossen wurde, war insofern zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung bereits überholungsbedürftig. Die Erschöpfung der beiden Teilstrategien wurde auf Bundesebene nicht bearbeitet, sondern zum Gegenstand gegenseitiger Vorwürfe, am schlimmsten in der Bundestagsfraktion. Im Mai 2012 kratzten die Bundesumfragen erstmals seit Gründung an der 5-Prozent-Hürde. Im Juni 2012 hielt Gregor Gysi seine berühmte Parteitagsrede, in der er ausführte, zwischen den Lagern in der Fraktion herrsche „Hass“, sie befinde sich in einem „pathologischen Zustand“, der Sachdiskussionen unmöglich mache.[31] 2012/13 verlor die LINKE bei den Landtagswahlen ihre Fraktionen in NRW, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. 

Die Abkoppelung der Landesverbände

In der Krisenphase begann die Entkopplung der Landesverbände von den Diskussionen der Bundespartei. In allen Landesverbänden, die noch Landtagsfraktionen hatten, setzte sich eine pragmatische Durchsetzungsstrategie durch, die Regierungsbeteiligungen weder ausschloss noch als Wert an sich behandelte. Darin trafen sich kritische Auswertungen von Regierungsbeteiligungen in Ost-Landesverbänden zunehmend mit kritischen Auswertungen von Fundamentalopposition in West-Landesverbänden. Die Ost-West-Spaltung der Partei begann sich aufzulösen. Auf Bundesebene war dies mit dem Machtwechsel vom Vorsitzenden-Duo Gesine Lötzsch/ Klaus Ernst zu Katja Kipping/ Bernd Riexinger deutlich geworden. Beide Vorsitzenden-Paare folgten zwar formal einer Ost-West-Struktur, inhaltlich aber vertraten beide gegensätzliche politische Lager.

Die einzige Fraktion, die sich der pragmatischen Durchsetzungsstrategie nicht anschloss, war die Bundestagsfraktion. Sie entschied sich dafür, gegensätzliche Strategien gleichzeitig zu bespielen und für die innerfraktionelle Mehrheitsbildung auf inhaltliche Konsistenz zu verzichten. Ohne ein gemeinsames strategisches Zentrum zwischen Parteivorstand und Fraktion blieb die Frage der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene vermintes Gelände, auf dem man jederzeit einen Parteitag hochjagen konnte. Im Grund erübrigte sich die Frage auch, da eine Regierungszusammenarbeit mit einer Fraktion, die ihre öffentliche Positionierung zu zentralen Sachfragen und zu anderen Parteien weder untereinander noch mit der eigenen Partei abstimmt, nicht möglich ist.[32] Die Landesverbände mit Fraktionen machten derweil, was sie für richtig hielten, während die Landesverbände ohne Fraktionen sich in einer starken Abhängigkeit von ihren Bundestagsabgeordneten befanden und anfälliger für deren Grabenkämpfe waren, was ihnen nicht weiterhalf. Das war der Weg der Dinge seit 2012. Und seither steht das Dogma: Was für die Landesverbände gelten mag, könne keinesfalls für die Bundespartei gelten.

Die Fragen der Strategie

Richtig ist, dass es in der LINKEN offene strategische Fragen gibt, die zwar auf allen Ebenen eine Rolle spielen, letztlich aber nur bundespolitisch beantwortet werden können. Das betrifft für die Linke so vitale Fragen wie die soziale Zielgruppe, das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit, und die polit-ökonomische Strategie.

Die Partei hat seit ihrer Gründung mit einem vagen Kompromiss gelebt zwischen dem Bezug auf die sozialistische Traditionslinie der Arbeiterbewegung und dem Bezug auf alle anderen Emanzipations- und Gerechtigkeitsfragen: Geschlecht, Ethnizität, internationale Gerechtigkeit. Das schlägt sich nieder in der primären Orientierung auf die untere Einkommenshälfte der Bevölkerung, einem weichen Klassenbegriff (der weniger nach der Stellung im Produktionsprozess fragt als nach Einkommen und Vermögen) und einem schwachen Hauptwiderspruch (der in den konkreten Fragen zwar nicht die Klassenlage für das Bestimmende hält, aber die Einkommenslage). Damit ist die Partei lange Zeit ganz gut gefahren. Sie war dadurch anschlussfähig zur bürgerlichen Sozialfürsorge („Armutsbekämpfung“), zur liberalen Diversität („Antidiskriminierung“), zu internationalen zivilgesellschaftlichen Bewegungen („Menschenrechte“) und zur Entspannungspolitik („Friedenspolitik“). Das beinhaltete Unschärfen und Blindstellen, die deutlich wurden beim Elterngeld, bei Lohnkämpfen Höherqualifizierter, Spartengewerkschaften, Auslandseinsätzen mit UN-Mandat usw. Es führte zu einer Reduzierung von Wirtschaftspolitik auf Finanzpolitik, von Friedenspolitik auf sich Raushalten, von sozialer Frage auf Lohnkämpfe und staatliche Umverteilung, von Antikapitalismus auf Anti-Neoliberalismus. Trotzdem ließ sich damit politisch leben.

Dieser selbstgewählte Sicherheitskorridor wurde aber durch die äußeren Entwicklungen zunehmend gesprengt. Er funktioniert dann nicht mehr, wenn die Interessen von sozialen Gruppen und Bewegungen, denen man sich verpflichtet sieht, systematisch in Konflikt geraten; wenn Industriepolitik, transnationale Sicherheitspolitik und die genaue Bedeutung der sozialen Frage plötzlich im Zentrum von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stehen; wenn der allmähliche Abschied vom Neoliberalismus nicht mehr die Kritik daran, sondern den Weg in ein neues Regulationsmodell in den Vordergrund rückt.

Das Scheitern an Gerechtigkeitsfragen

Alle Ereignisse, mit denen die LINKE in der Folge größte Schwierigkeiten hatte, waren typischerweise davon geprägt, dass sie sich nicht auf das Schema „Arm gegen Reich“ abbilden lassen: Der Anstieg der Zuwanderung nach der temporären Grenzöffnung (2015/16); die durch IPCC und Fridays for Future auf die politische Agenda gesetzte beschleunigte Klima-Transformation (2018/19); die Corona-Pandemie (2020/21); der russische Angriffskrieg auf die Ukraine (2022/23). Alle diese Ereignisse forderten eine Politik der Abwägung und des Ausgleichs unterschiedlicher Interessen auch innerhalb der unteren Einkommenshälfte, insbesondere wenn die soziale Frage sowohl national als auch international gedacht wird. Sie eigneten sich nicht für eine zugespitzte „Wir gegen die“-Mobilisierung und nicht für radikale Vereinfachung, sondern benötigten eine sehr informierte Politik und tatsächlich eine „verbindende Klassenpolitik“, die Widersprüche zulässt und nicht nur moralisch argumentiert, sondern sich auch mit den jeweiligen Interessen differenziert auseinandersetzt.

An dieser Anforderung ist die LINKE auf Bundesebene kontinuierlich gescheitert, während sie sich ihr auf Länderebene gestellt hat. Der Wunsch nach moralischer Eindeutigkeit blockierte immer wieder die notwendigen Diskussionen und Positionsfindungen auf Bundesebene. Die potenzielle Stärke der LINKEN: Handlungsnotwendigkeiten aufzugreifen und dabei die soziale Frage konsequent in den Mittelpunkt zu stellen sowie in der Interventionsbereitschaft über die Grenzen des Mainstreams hinauszugehen, konnte so nicht zum Tragen kommen.

Hierbei rächte sich eine erstaunliche Schwäche der LINKEN. Obwohl die Partei eindeutig die soziale Gerechtigkeit als Markenkern hat, führt sie keinen Gerechtigkeitsdiskurs und nimmt an entsprechenden gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Debatten nicht teil.[33] Das gilt nicht nur für die klassischen Spannungen des Themas (Gerechtigkeit versus Gleichheit, Einkommen versus Lebenschancen, Verhältnis verschiedener Formen von individuellem und kollektivem Kapital zueinander), sondern sehr konkret für die „großen“ Themen der letzten Jahre. Hier waren Antworten gefragt auf die Widersprüche zwischen gesundheitlichen, ökonomischen, sozialen und politischen Interessen innerhalb der Klasse (Corona); auf die Widersprüche zwischen nationalen Arbeiterklassen (Ukraine-Krieg); oder zwischen kurz- und langfristigen sozio-ökonomischen Interessen (Klima-Transformation, Migration).

An diesen Punkten blockierte sich die Partei auf Bundesebene zuverlässig, weil unterschiedliche Strömungen eine moralische Eindeutigkeit suchten, die nur um den Preis zu haben war, bestimmte soziale Interessen und soziale Gruppen schlicht auszublenden. Damit verletzte die LINKE nicht nur den Anspruch auf Solidarität zugunsten eines Auswahlmechanismus, sondern neigte auch zu einer Über-Ideologisierung von Auseinandersetzungen. Beides führt nicht dazu, sich als verlässliche und orientierende Kraft in der Krise zu bewähren – was auf Länderebene gelang, nicht aber auf Bundesebene.

Der Rahmen: Krise der Sozialdemokratie

Die Kritik der sozialdemokratischen Strategie ist ein notwendiger Bestandteil jeder linkssozialistischen Politik. Diese kann nicht abstrakt erfolgen, sondern muss die jeweiligen polit-ökonomischen Rahmenbedingungen reflektieren. Es war daher erwartbar, dass die internationale Krise der Sozialdemokratie[34] auch zu einer Debatte um linkssozialistische Strategien auf der Höhe der Zeit führt. In der Tat lassen sich die Auseinandersetzungen in der LINKEN bestimmten möglichen Strategieantworten zuordnen. Die Debatte ist allerdings bislang stark blockiert.

Erik Olin Wright gibt eine stark vereinfachte, aber gerade darum sehr brauchbare Darstellung zur Krise der sozialdemokratischen Strategie vor dem Hintergrund der Theorie des „positiven Klassenkompromiss“.[35] Dieser bestimmte die „Golden Era“ der Sozialdemokratie vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Einerseits stehen soziale Sicherheit, staatliche Umverteilung und ökonomische Regulierung im Gegensatz zur Profitmaximierung. Dies ist aber keine lineare Funktion, da das Funktionieren der kapitalistischen Ökonomie bis zu einem gewissen Grad von genau diesen Einschränkungen der Kapitalfreiheit profitiert. In einer historischen Phase, wo ein brachialer Manchester-Kapitalismus gesellschaftlich nicht mehr durchsetzbar ist, gibt es einen Grad von Regulierung, bei dem sowohl breite soziale Interessen als auch Profite besser bedient werden als mit weniger gesellschaftlicher Regulierung. Diese Zone nennt Wright das „sozialdemokratische Optimum“[36]. Weniger Regulierung würde die Profite des Kapitals schwächen, mehr Regulierung würde seine gesellschaftliche Dominanz gefährden und in eine Zone verschärfter Auseinandersetzungen und mehr Instabilität führen. Diese relative, aber objektive Interessenannäherung (die von politischer Macht abgesichert werden muss), ist die Grundlage für eine hegemoniale Stellung sozialdemokratischer Parteien in westlichen Industriestaaten während der „Golden Era“.

Diese objektive Grundlage erodiert ab den 1990er Jahren, weil kapitalistische Profite sich zunehmend in einer globalisierten Ökonomie realisieren, in der – im Unterschied zu früher – globale Produktionsketten organisierbar sind, die faktisch global zerlegte Fabriken sind. Die globale Neuordnung der Produktion, technisch ermöglicht durch die Informations- und Kommunikationstechnologien und sozial ermöglicht durch die Entwicklung der Schwellenländer, wird über den Druck der Finanzmärkte organisiert. Gleichzeitig verlagern sich mehr Prozesse der Steuerung und Entwicklung ins Innere von transnationalen Konzernen. Das verändert die Ausgangslage und schwächt die Kräfteverhältnisse: Das Kapital braucht weniger Regulierungsfunktion vom Staat, und die Arbeiterklasse steht nicht mehr nur in individueller Konkurrenz, die sich durch Organisierung beantworten lässt, sondern zunehmend in der Konkurrenz verschiedener nationaler Arbeiterklassen, worauf es bislang wenig Antwort gibt. Dadurch verschwindet das „sozialdemokratische Optimum“, und die politische Lage ist gekennzeichnet von Defensivkämpfen und zunehmender Deregulierung und Entsicherung. Dass zur eigentlich erforderlichen Regulierung inzwischen auch die ökologische Regulierung gehört, ändert an dieser Situation erstmal nichts.

Die linkssozialistische Kritik an der sozialdemokratischen Strategie in der „Golden Era“ hatte immer mehrere Dimensionen: Dass die Sozialdemokratie das „sozialdemokratische Optimum“ gar nicht realisiert, weil sie zu viel Rücksicht auf die Bedürfnisse des Kapitals nimmt; dass die Sozialdemokratie das „Optimum“ nicht weiter verschiebt, indem sie Elemente eines negativen Klassenkompromisses[37] hinzunimmt durch Mobilisierung und soziale Kämpfe; dass die Sozialdemokratie davor zurückschickt, eine Perspektive aufzunehmen, bei der diese Auseinandersetzungen bis zu einem Punkt geführt werden, an dem die gesellschaftliche Dominanz der Kapitalseite tatsächlich überwunden wird. Da Parteien nicht trennscharf sind und es auch in der Sozialdemokratie unterschiedliche Tendenzen gibt, war dies die Grundlage sowohl für Konflikt als auch für Kooperation. Alle diese Formen der Kritik, wenn sie mehr sein wollten als moralische Anklage, waren aber daran gebunden, dass es den positiven Klassenkompromiss der „Golden Era“ als Ausgangspunkt gab.

Suchbewegung 1: Die linkskonservative Antwort

Daher müssen die strategischen Antworten sich ändern. Wright selbst beschreibt zwei strategische Möglichkeiten.[38] Die erste liegt darin, die Bedingungen für den positiven Klassenkompromiss wieder herzustellen, indem die Tendenzen von De-Globalisierung positiv aufgegriffen und politisch verstärkt werden. Die Kompetenzen des Nationalstaats sollen wieder gestärkt werden, die Mobilität von Kapital und Arbeit eingeschränkt, die Finanzialisierung des Kapitalismus und der Einfluss der Kapitalmärkte begrenzt werden, so dass – soweit die Hoffnung – das nationale Kapital wieder zu positiven Klassenkompromissen gezwungen ist, weil es keinen ökonomischen Ausweg hat.

Diese politische Tendenz lässt sich mit einer gewissen Berechtigung als „linkskonservativ“ bezeichnen, weil sie die globale Veränderung der Produktionsverhältnisse wieder zurückdrängen will und weil sie zu einer gewissen nostalgischen Verklärung der Verhältnisse in der „Golden Era“ neigt. Über ihr schwebt die Frage, ob eine solche Strategie der Re-Nationalisierung ernsthaft möglich ist; wie sie auf transnationale Kapitalverhältnisse und globale Wettbewerbsverhältnisse Einfluss nehmen will; und ob sie gesellschaftlich überhaupt wünschenswert ist. Immerhin hat die Globalisierung auch eine Vielzahl von Borniertheiten und Diskriminierungen in Bewegung gebracht, und eine verstärkte Abschottung liegt weder im Interesse relevanter Teile der qualifizierten Arbeiterklasse noch im Interesse der Mittelklassen im Globalen Süden.

Die Stärke dieser Antwort liegt darin, dass sie sowohl an der Basis der Partei als auch in selbst benachteiligten Wähler*innen-Schichten leicht zu vermitteln ist; und dass sie nahe am Markenkern der Partei liegt. Ihre Schwäche liegt darin, dass sie materiell letztlich nicht liefern kann, weil sie keine gesellschaftlichen Mehrheiten für linke Politik zusammenbringt, die real etwas umsetzen könnten.[39]

Suchbewegung 2: Die bewegungslinke Antwort

Die zweite strategische Antwort, die Wright beschreibt, orientiert nicht auf die unmittelbare Wiederherstellung der Bedingungen des klassischen Klassenkompromisses. Sie will stattdessen die Wirkung der globalen kapitalistischen Verhältnisse abschwächen, indem sie alternative Formen der sozialen und ökonomischen Vergesellschaftung stärkt, die innerhalb des Kapitalismus existieren, aber teilweise nach anderen Regeln funktionieren. Hier geht es z.B. um den Aufbau von Genossenschaften, belegschaftsgeführten Betrieben, solidarischen Finanzierungsmodellen und das ganze Feld von solidarischer Ökonomie bis hin zur Social Entrepreneurship und transnationalen migrantischen Netzwerken. Der staatlich organisierte Wohlfahrtsstaat soll ergänzt werden durch Formen der Selbstorganisation; er wird auch tendenziell kritischer gesehen hinsichtlich seiner normierenden, bevormundenden und entfremdenden Eigenschaften.

Während die linkskonservative Strategie zwingend auf die Perspektive setzen muss, dass Regierungen links der Mitte institutionelle Reformen durchsetzen, hat die Strategie alternativer Vergesellschaftung zwar auch Forderungen an den Staat, hält aber mehr Distanz zu den Fragen der Regierungsbeteiligung. Sie hält die Möglichkeiten, innerhalb der aktuellen Situation Gegenmacht zu organisieren, für bei weitem nicht ausgeschöpft und interessiert sich daher für alle Formen des Organizing, der milieuorientierten Aufklärung und Organisierung, auch für das Nutzen von juristischen Spielräumen, wenn diese durch Kampagnen eingefordert werden.

Innerhalb der Linken kann man diese zweite mögliche Antwort mit aller nötigen Unschärfe als „bewegungslinke“ Strategie bezeichnen. Ihre Stärke liegt darin, dass sie für transnationale Politikformen offen ist und dass sie nicht darauf angewiesen ist, alle Errungenschaften der Globalisierung zurückweisen zu müssen. Die Frage, der sie sich stellen muss, ist vor allem, ob eine solche Strategie stark genug ist, die Wucht transnationaler Kapitalverhältnisse und globaler Wettbewerbsverhältnisse hinreichend abzumildern, und ob sie denen wirklich eine Antwort bietet, denen die Kraft und das soziale, kulturelle und finanzielle Kapital zur Selbstorganisation weitgehend fehlen.

Suchbewegung 3: Die transformatorische Antwort

Eine dritte strategische Antwort von links auf die Krise der Sozialdemokratie ist die transformatorische Strategie. Sie ist nicht bei Wright beschrieben, aber sie hat in den letzten Jahren innerhalb der Linken deutlich an Raum gewonnen. Ihr Ausgangspunkt ist das Ende des Neoliberalismus und die Einschätzung, dass sich der globale Kapitalismus im Übergang zu einem neuen Akkumulationsregime befindet, das das bisherige Regime – den finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – ablöst, weil dessen Dynamik sich erschöpft hat.

Das neue Akkumulationsregime hat bislang keinen Namen, und es hat sich auch noch nicht durchgesetzt; man kann es provisorisch als „innovationsgetriebenen Kapitalismus“ bezeichnen.[40] Seine Eigenschaften werden in einem breiten wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Mainstream relativ übereinstimmend beschrieben, der von klassischen Denkfabriken des globalen Kapitalismus (wie dem Weltwirtschaftsforum) über die EU-Kommission bis zu linken Wirtschaftstheoretikerinnen wie Mariana Mazzucato reicht: Rückkehr des Staates; aktive staatliche Wirtschaftspolitik; Bildung von Clustern und Kooperationen aus Staat und Konzernen zur Förderung von Innovation; Konzentration von Wertschöpfung auf die Umsetzung disruptiver Innovationen; staatliche Investitionen in weiche Standortfaktoren wie Bildung, Infrastruktur, Fachkräfte, „Innovationslandschaften“; Finanzierung über höhere Steuern und ein gelockertes Schuldenregime; klare staatliche Rahmen- und Zielsetzungen bei der ökologischen und klimapolitischen Transformation, als Voraussetzung für private Investitionen; hohe Standards von Durchlässigkeit und Antidiskriminierung innerhalb eines globalisierten Sektors, der quer zu Staatsgrenzen verläuft; ungeklärtes, spannungsreiches Verhältnis zwischen dem globalisierten Sektor und dem „Rest“, der in den meisten Ländern die Mehrheit des Territoriums und der Bevölkerung umfasst.

Aus der Notwendigkeit, den Übergang zu managen, entsteht der Raum für neue Klassenkompromisse. Sie funktionieren allerdings anders. In der Notwendigkeit des Übergangs schneiden sich objektive Kapitalinteressen und objektive Interessen der breiten sozialen Mehrheit. Aber dabei handelt es sich nicht um eine stabile Zone der „Optimierung“, im Sinne der sozialdemokratischen Komfortzone der „Golden Era“, sondern um eine dynamische Situation, die so oder so ausgestaltet werden kann. Diejenige Kraft, die einen historischen Block formen kann, der die notwendige gesellschaftliche Veränderung bewerkstelligt, kann diese Veränderung auch in ihrem Sinne formen. Sie hat die Möglichkeit, der Transformation die sozialen Interessen und institutionellen Ordnungsvorstellungen einzuschreiben, für die sie eintritt. Wenn linke Parteien den Übergang zum neuen Akkumulationsmodell durchsetzen, wofür sie strukturell besser geeignet sind als das bürgerliche Parteienlager[41], können sie dabei auch eigene Forderungen realisieren. Sie können sozusagen einen Preis formulieren, unter dem die Transformation nicht zu haben ist.

Darin liegt auch die Herausforderung, nämlich entsprechende Forderungen und Reformvorstellungen zu entwickeln, die über den Mainstream dessen hinausgehen, was sowieso gemacht werden muss, die aber auch machbar sind. Das bedeutet, linke Handschrift auf der Höhe der Zeit zu zeigen. Hier liegt ein dringender Diskussions- und Entwicklungsbedarf, der aus den linken Erfahrungen auf Regional- und Landesebene inspiriert sein kann, aber eigenständige Ziele und Forderungen auf nationaler und europäischer Ebene produzieren muss.[42]

Die zweite Herausforderung ist, das ungeklärte Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu politisieren, das die aktuelle Stufe der Globalisierung bestimmt. Es tritt in allen sozialen Verhältnissen und auf allen Ebenen auf, von der räumlichen Struktur der Weltökonomie bis zu städtischen Sozialräumen, von Stadt-Land-Verhältnissen bis zur Stratifikation kultureller oder wissenschaftlicher Produktion. Es ist eine fraktale Struktur, bei der wir alle auf beiden Seiten teilhaben, je nachdem worum es gerade geht oder was der Vergleichsmaßstab ist, die aber in der Summe enorme neue Ungleichheiten produziert. Darauf gibt es bislang zu wenige politische Antworten. Gerade hier muss sich aber der linke Anspruch auf soziale Gerechtigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt beweisen.

Antworten ohne Strategie

Alle drei strategischen Ansätze sind legitime Beiträge zur Entwicklung der Linken und haben innerhalb der Linkspartei ihre Berechtigung.[43] Obwohl sie im Einzelnen zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, stehen sie sich nicht diametral und unversöhnbar gegenüber. Es lässt sich zeigen, dass dort, wo die LINKE erfolgreich operiert, Elemente aller drei Strategien verwendet werden, wenn auch bei einer tendenziellen Dominanz des transformatorischen Ansatzes.[44] Jedenfalls muss zwischen diesen Ansätzen die strategische Debatte geführt und weiterentwickelt werden.[45]

Davon zu trennen sind die medial im Vordergrund stehenden Versuche einiger weniger Bundestagsabgeordneter, eine post-politische Partei zu gründen, die keine strategischen Antworten gibt, sondern sich ausschließlich aus der Aufmerksamkeitsökonomie speist. Aus der Gruppierung um Sahra Wagenknecht gibt es seit Jahren keine ernsthaften Vorschläge, wie die soziale Lage der unteren Einkommenshälfte verbessert werden soll. Alle Äußerungen dieser Gruppe befassen sich typischerweise extrem polarisierend mit den genannten vier Themen, die sich gerade nicht entlang der Arm-Reich-Achse auflösen lassen (Zuwanderung, Corona-Pandemie, Klima-Transformation, Ukraine-Krieg), und konzentrieren sich auf die Konstruktion von sozialen Feindbildern („Fremdarbeiter“, Corona-Diktatur, Lifestyle-Linke, „Kriegshetzer“). Die soziale Frage spielt in dieser Gruppe faktisch keine Rolle mehr und kann es auch nicht, weil das die gewünschte Kulturalisierung von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen stören würde.[46] Da der Motor nicht soziale Forderungen sind, sondern das Schüren von Ressentiments, kann auch eine etwaige Konkurrenzgründung auf dieser Grundlage nur ein Beitrag zur Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach rechts sein.[47]

Dieser Ansatz ist nicht innerhalb der gesellschaftlichen Linken oder der LINKEN als Partei integrierbar. Er ist in überhaupt keiner „normalen“ Partei integrierbar, weil er innerparteiliche Diskussion ausschließt, demokratische Mehrheitsbildung nicht anerkennt und keinen positiven Beitrag zur Veränderung der Lage von irgendeiner Zielgruppe leistet. Es ist daher ein gemeinsames Element erfolgreicher linker Landes- und Kreisverbände, dass dieser Ansatz so weit wie möglich zurückgedrängt wird und in dem, was man von der Partei nach außen wahrnehmen kann, keine Rolle spielt. Es ist auch wenig überraschend, dass sich die LINKE gesellschaftlich schlecht verankern lässt, wenn aus ihr gleichzeitig verlautbart wird, dass diese Partei seit Jahren kaputt, nicht mehr zu retten und ein permanenter Verrat an den sozialen Interessen der Arbeiterschaft sei, oder wenn soziale Politik durch Beschimpfung von Zielgruppen ersetzt wird.

Keine Wunder, sondern Best Practice

Eigentlich ist alles längst entschieden. Darüber, dass die LINKE nur entlang ihres Markenkerns gewinnen kann und muss, besteht in der Partei breite Einigkeit. Sören Pellmann antwortet auf die Frage, ob er Wähler*innen im Wahlkreis eher mit Klimaschutz-Argumenten überzeugen könne oder mit Forderungen nach Migrations-Begrenzung und Aufhebung der Russland-Sanktionen: „Weder noch. [Auf dem ersten Platz] steht die Bezahlbarkeit von alltäglichen Dingen des Lebens: Lebensmittel, Energie, Strom, Benzin (…) die Bezahlbarkeit von Wohnungen (…) Das sind die dringenden Themen. Wenn wir dazu noch die soziale und die Gesundheitsfrage als Linke mit einer Stimme bearbeiten und versuchen zu beantworten, wären wir schon ein gutes Stück weiter.“[48] Martin Schirdewan antwortet auf die Frage nach den Ursachen des Bremer Wahlerfolges der LINKEN: „Der Landesverband hat dort eine hervorragende Politik in schwierigen Zeiten gemacht. Die beiden Linken-Senatorinnen, Claudia Bernhard und Kristina Vogt, haben in der Corona-Pandemie und in der Energiekrise immer die sozialen Belange der Bevölkerung im Auge gehabt. Von schnellen Impfkampagnen bis Härtefall-Fonds – eine kluge und pragmatische Politik, die gleichzeitig auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt gestärkt hat.“[49] Die Versuche des Parteivorstands, mit sozialen Forderungen und Initiativen durchzudringen, sind richtig und dringen medial auch immer wieder durch.

Diskussionen zwischen den beschriebenen strategischen Tendenzen sind notwendig, wie sie in den Ländern längst stattfinden (und auf Bundesebene in geeigneter Form organisiert werden sollten). Das ist teilweise schmerzhaft und geht nicht ohne Kompromisse, mit denen alle unglücklich sind, aber es macht die Partei handlungsfähig. Durch einseitig-populistische Antworten auf Herausforderungen wie Migration, Pandemie, Klimakrise und Ukraine-Krise lässt sich dagegen kein linkes Profil gewinnen. Auch das ist inzwischen geklärt, und die LINKE hat sich auf Bundesparteitagen und in den Ländern letztlich diese Position zu eigen gemacht. Es dient nicht den Interessen der Arbeiterklasse, Pandemien zu leugnen, die technologische Modernisierung der Autoindustrie zu verschlafen, sich in vertiefte Abhängigkeit von Russland zu begeben, und den Wirtschaftsstandort wahlweise durch mangelnde Zuwanderung, bornierten Nationalchauvinismus oder Verteufelung von Diversität zu ruinieren. Darüber muss in der Partei nicht mehr ernsthaft diskutiert werden.

Das Problem bleibt die Bundestagsfraktion, deren Bekenntnis zur Partei in Teilen offen in Frage steht. Im Rahmen der Aufmerksamkeitshierarchie wird aber der Gesamtzustand einer Partei, sofern sie keine Bundesminister*innen aufweist, zuerst an der Bundestagsfraktion abgelesen – nicht an Landesverbänden, Landesminister*innen oder dem Parteivorstand. Ob sich verhindern lässt, dass es durch Austritte zum Absinken auf den Status einer Gruppe im Bundestag kommt, ist fraglich, aber letztlich auch egal. Entscheidend ist, ob Fraktion oder Gruppe, und vor allem der Fraktionsvorstand, zur Partei stehen, sich in deren Entwicklung konstruktiv einbringen und den Kurs der Toleranz gegenüber gewollter Parteischädigung aus den Reihen der Fraktion aufgeben. Die LINKE wird auch eine Konkurrenzgründung, die sich bereits jetzt entzaubert hat, überstehen (wenn sie denn kommt). Was den Wiedereinzug 2025 gefährdet, ist einzig und allein das Szenario einer lang hingezogenen Situation, in der die Loyalität der eigenen Fraktion oder Gruppe zur Partei (zum Parteivorstand, zu allen Landtagsfraktionen, zu allen regierenden Landesverbänden und sämtlichen erfolgreichen Landes- und Kreisverbänden) beständig in Frage steht.

Es gibt viele Hausaufgaben zu machen. Was sich aus den erfolgreichen Beispielen auf Länder- und Regionalebene lernen lässt, ist, dass das kein Schaden ist – solange man den Laden zusammenhält, sich eng abspricht und ernsthaft und ohne Denkverbote an den offenen Fragen arbeitet. Dafür wird es allerdings Zeit, die erfolgreichen Beispiele nicht länger als eine lange Reihe von Sondersituationen darzustellen, sondern als „Best Practice“ und als ambitionierte Kombination moderner strategischer Antworten ernst zu nehmen. Was in Bremen, Berlin oder Rostock passiert, sind keine Wunder. Es ist einfach das, was eine linke Partei machen muss, die sich auf die Wirklichkeit einlässt.


[1] Stefan Reinecke: Die Linke nach der Bremen-Wahl: Geht doch!, taz 15.5.2023, https://taz.de/Die-Linke-nach-der-Bremen-Wahl/!5931832/

[2] Moritz Warnke: Wahlnachtbericht Bürgerschaftswahl Bremen 2023, Rosa-Luxemburg-Stiftung, https://www.rosalux.de/publikation/id/50407

[3] Nachwahlbefragung Infratest dimap, https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-05-14-LT-DE-HB/umfrage-linke.shtml.

[4] Wähler*innen-Wanderungen (Bruttoströme) hier: https://www.tagesschau.de/inland/waehlerwanderung-bremen-102.html.

[5] Noch im Mai 2022 lag die Zustimmung bei 56 Prozent. Infratest-dimap, Bremen-Trend 2022, https://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundeslaender/bremen/laendertrend/2022/mai/

[6] Koalitions-Einigung zu Entlastungen für Verbraucher*innen Ende März 2023, Überblick: https://www.sofia-leonidakis.de/presse/detail/rot-gruen-rot-beschliesst-konkrete-entlastungsmassnahmen-in-der-krise/, Infokampagne: https://www.senatspressestelle.bremen.de/pressemitteilungen/informationskampagne-zur-vermeidung-von-notlagen-in-folge-der-ukraine-krise-422086?asl=bremen02.c.732.de

[7] In Bremen gibt es innerhalb der Legislaturperiode nur wenige Wahlumfragen. Nicht-repräsentative Umfrage wie Civey oder die vom Weser-Kurier beauftragte Delta-Umfrage zur „Halbzeit“ haben keine echte Validität; das gilt auch für die von der BIW beauftragte INSA-Umfrage vom April 2023, die nur 500 Befragte aufwies. Dagegen sind die Umfragen von Wahlkreisprognose.de ernst zu nehmen. Sowohl eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung beauftragte Kantar/Emnid-Studie im Juni 2021 (wenn man die Nichtwähler*innen herausrechnet) als auch die Wahlkreisprognose.de-Umfrage vom März 2022 zeigten die LINKE bei 10 Prozent. Die Infratest-Umfragen von Mai 2022, März 2023 und April 2023 wiesen für die LINKE 7-8 Prozent aus, alle Mai-2023-Umfragen 9-11 Prozent. Es ist nicht auszuschließen, dass Befragte teilweise nicht bewusst zwischen Bundes- und Landtagswahl unterschieden oder Institute zunächst einen stärkeren Korrektur-Abschlag angesichts der Bundesumfragen eingepreist haben, der sich auf Dauer nicht bestätigen ließ. Dennoch dürfte der Befund stimmen, dass sich die LINKE in Bremen ein relatives Umfragen-Tief schließlich im Wahlkampf positiv drehen konnte.

[8] https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-05-14-LT-DE-HB/umfrage-spd.shtml

[9] Ausführlicher zur Situation vor der Wahl: Christoph Spehr: Der lange Schatten Berlins, Sozialismus 4/2023, https://www.sozialismus.de/fileadmin/users/sozialismus/Leseproben/2023/Sozialismus_Heft_04-2023_L2_Spehr_Bremen.pdf

[10] Sinus-Milieus 2021, https://www.sinus-institut.de/media/pages/media-center/presse/sinus-milieus-2021/f227e6df30-1633013339/hintergrundinformation_sinus-milieus-2021.pdf

[11] Bei der Landtagswahl in Bremen gilt die 5%-Hürde getrennt für die beiden Wahlbereiche Bremen und Bremerhaven.

[12] https://www.statistik-bremen.de/Tabellen/Wahlen/WahlatlasBuergerschaft2023_Strukturindikatoren/BremerWahlatlasII.html?indicator=i50&indicator2=i0

[13] Die LINKE unterscheidet sich damit von den anderen Parteien. Die Ergebnisse von SPD und BIW korrelieren positiv mit der Höhe von Arbeitslosigkeit, SGB-II-Anteil und Migrationsquote, negativ mit der Höhe des mittleren Einkommens und der Abiturientenquote – bei Grünen und CDU ist es umgekehrt. Bei der FDP gibt es einen starken (positiven) Zusammenhang nur mit der Höhe des mittleren Einkommens, nicht mit den anderen Strukturdaten.

[14] Wahlanalyse KAS, Tabellenteil, https://www.kas.de/documents/252038/22161843/Tabellenanhang+Bremen+14.05.2023.pdf/4e78861c-176d-7f4a-eb1d-496a19ab5cf9?version=1.1&t=1684767970125; aus den Tabellenteilen der jeweiligen KAS-Wahlanalysen sind auch die Vergleichszahlen im Weiteren entnommen.

[15] Für Bremerhaven gibt es keinen Online-Wahlatlas mit Strukturdaten-Abgleich. Als Quelle für Strukturdaten auf Ortsteil-Ebene wurde daher herangezogen der Gesamtbericht Sozialraumanalysen Frühe Hilfen

in Bremerhaven (Stand 2017, online zugänglich: https://www.bremerhaven.de/sixcms/media.php/94/Gesamtbericht+Sozialraumanalysen+Fr%C3%BChe+Hilfen+Bremerhaven.pdf). Die Detailergebnisse zur Bürgerschaftswahl auf Ortsteilebene in Bremerhaven sind gut im Überblick einsehbar auf der Wikipedia-Seite zur Bürgerschaftswahl 2023, https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerschaftswahl_in_Bremen_2023, und entsprechend zur Bürgerschaftswahl 2019.

[16] An Brot-und-Butter-Themen fehlte es jedenfalls nicht. Noch kurz vor der Wahl stellten die beiden Spitzenkandidatinnen ein Konzept für bezahlbares Wohnen vor. Hier ist auch das Beispiel Berlin instruktiv: Eine Enteignungskampagne für börsennotierte Wohnungsbaukonzerne und ein umfassender Mietendeckel – mehr kann man sozialpolitisch eigentlich nicht wollen.

[17] So sind z.B. Leiharbeitskräfte in einigen Bereichen inzwischen bessergestellt als Festangestellte, etwa in der Pflege. Die Kritik am Hartz-System wird zunehmend überlagert von der Frage, wodurch es ersetzt werden soll. Zudem ist fraglich, ob die alten Kernforderungen noch ausreichend wären, die soziale Lage der unteren Einkommenshälfte substanziell zu verändern.

[18] Konrad-Adenauer-Stiftung, Wahlanalysen, jeweils Tabellenanhang: Landtagswahl Saarland 25. März 2012, https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_30611_1.pdf/cf15ee8d-f698-e44f-730f-839937a7421e?version=1.0&t=1539657379004; Landtagswahl Schleswig-Holstein 6. Mai 2012, https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_30986_1.pdf/454507fb-3078-329b-bf57-69d50b96d883?version=1.0&t=1539657223004; Landtagswahl NRW 13. Mai 2012, https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_31150_1.pdf/53c5c993-56bb-bb39-cfc7-3b823c132c28?version=1.0&t=1539657152164; Wahlanalysen der Landtagswahlen 2011, https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_30751_1.pdf/d4924537-f4e8-29bf-ed64-ece1a78520d9?version=1.0&t=1539657316849.

[19] Stefan Reinecke, taz, siehe oben; Marc Röhlig: Aufbau West. Linken-Ergebnis in Bremen, Spiegel, 14.05.2023, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/linke-bei-der-bremen-buergerschaftswahl-2023-was-die-partei-erfolgreich-macht-a-31288397-d542-4bdd-9039-94c27241db50; Jochen Roose und Dominik Hirndorf: Die Bürgerschaftswahl in Bremen am 14. Mai 2023, Wahlanalyse der Konrad-Adenauer-Stiftung, https://www.kas.de/documents/252038/22161843/Wahlanalyse+Bremen+14.05.2023.pdf/e0aedd04-1094-c95c-cdbb-ba0dfbdc137b; Lothar Probst: Vorwahlanalyse zur Bremer Bürgerschaftswahl 2023, 13.04.2023, https://www.lotharprobst.de/fileadmin/user_upload/altdaten/aktuelles/2023/Vorwahlanalyse_B%C3%BCrgerschaftswahl_2023.pdf.

[20] Moritz Warnke, Wahlnachtbericht RLS, a.a.O.; Daphne Weber: Da geht noch was. Was die LINKE aus dem Bremer Wahlerfolg lernen kann, Luxemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/da-geht-noch-was/; Wolfgang Hübner: Wahl in Bremen: Na bitte, Linke, nd 16.05.2023, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173238.bremen-wahl-in-bremen-na-bitte-linke.html; Julien Niemann: Ein linkes Programm für Bremen, Jacobin, https://jacobin.de/artikel/ein-linkes-programm-fuer-bremen-wahl-linkspartei-julien-niemann/; Sebastian Rave: Bremen: Alles gut mit der LINKEN? https://www.sozialismus.info/2023/05/bremen-alles-gut-mit-der-linken/. Lediglich die Junge Welt gibt eine abweichende Erklärung. Nachdem im Voraus „der nächste Absturz“ vorhergesagt worden war (Kristian Stemmler: Wahl in Bremen. Vor dem nächsten Absturz, jw 4.05.2023, https://www.jungewelt.de/artikel/450142.wahl-in-bremen-vor-dem-n%C3%A4chsten-absturz.html; Kristian Stemmler: Verblasstes Rot. Angepasste Linkspartei muss mit Verlusten rechnen, jw 13.04.2023, https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/448715.wahl-in-bremen-verblasstes-rot.html), wurde das gute Abschneiden nachträglich damit erklärt, der Kriegskurs des Bremer Landesverbands zahle sich an einem Rüstungsstandort eben aus. „Angesichts der Kombination von boomender (…) Rüstungsindustrie und sozialem Beruhigungsmanagement war die Stabilität der Partei bei der Bürgerschaftswahl keine große Überraschung.“ Arnold Schölzel: SPD hat die Wahl. Am Rüstungsstandort Bremen wird kriegspolitisch zuverlässiges Regierungspersonal benötigt, jw 16.05.2023, https://www.jungewelt.de/artikel/450883.bremen-spd-hat-die-wahl.html.

[21] https://www.weser-kurier.de/bremen/politik/buergerschaft-fast-jeder-dritte-bremer-wuerde-aktuell-die-gruenen-waehlen-doc7fq7ed68repzfqlmae

[22] Kompetenzen Bundesparteien: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1259717/umfrage/kompetenz-profile-der-parteien-vor-bundestagswahl/; Aussage zu Wirtschaft: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2023-05-14-LT-DE-HB/umfrage-linke.shtml; Delta-Umfrage Weserkurier 2021: https://www.weser-kurier.de/bremen/politik/buergerschaft-fast-jeder-dritte-bremer-wuerde-aktuell-die-gruenen-waehlen-doc7fq7ed68repzfqlmae; Trend-Fokus Wahlkreisprognose.de Februar 2023: https://interaktiv.wahlkreisprognose.de/feed/219

[23] https://www.weser-kurier.de/bremen/politik/bremer-koalition-konflikt-um-krisen-hilfen-dauert-an-doc7pcbbas6jtwciftgjht

[24] Rave, a.a.O.

[25] Stefan Reinecke: Die letzte Chance. Linkspartei vor der Wahl in Bremen, taz 13.05.2023, https://taz.de/Linkspartei-vor-der-Wahl-in-Bremen/!5931654/

[26] Es wird in der Linken ständig unterschätzt, wie hartnäckig antikommunistische Vorurteile sich halten und wie leicht sie gesellschaftlich mobilisierbar sind. Das mussten auch die Grünen immer wieder schmerzlich erfahren. Antikommunismus hat nichts mit Kritik des Kommunismus zu tun, sondern ist die Abwehr gesellschaftlicher Veränderungen und Emanzipationsprozesse mit Hilfe von dämonisierenden Zerrbildern über linke Parteien, linke Politiker*innen, linke Frauen oder politisierte Arbeiterschaft, entlang von Stereotypen wie Zwangspolitik, Verbotspolitik, Kollektivismus, Meinungsdiktat, Umerziehung, Libertinage oder generellem Untergang des Abendlandes. Es ist weder eine gute Idee, hier leichtfertig unnötige Angriffsflächen zu liefern, noch solche Stereotypen selbst mitzubefeuern, nur weil es gerade gegen die Grünen geht.

[27] Beim Abbruch der Jamaika-Verhandlungen 2017. Wortlaut seiner Erklärung hier: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/christian-lindner-sondierung-jamaika-abbruch-fdp?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F

[28] Mario Candeias: Wir leben in keiner offenen Situation mehr, Luxemburg, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wir-leben-in-keiner-offenen-situation-mehr/

[29] Christoph Spehr: Bewegung, Strömung, Partei. Formen des Politischen heute, in: Michael Brie und Cornelia Hildebrandt (Hrsg.): Für ein anderes Europa. Linksparteien im Aufbruch, Berlin 2005. Leicht gekürzte Version hier: https://www.rosalux.de/publikation/id/1949/bewegung-stroemung-partei-annaeherungen-an-eine-theorie-der-formen-des-politischen-schlussfolgerungen-fuer-linke-perspektiven-heute

[30] Christoph Spehr: Wann kann man sagen …, Luxemburg September 2011, https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/wann-kann-man-sagen/

[31] Stefan Reinecke: „In der Fraktion herrscht Hass“. Gysi- und Lafontaine-Reden beim Parteitag, taz 2.06.2012, https://taz.de/Gysi–und-Lafontaine-Reden-beim-Parteitag/!5092488/

[32] Interessanterweise ist das Abstimmungsverhalten der Linksfraktion im Bundestag immer auffalle nd geschlossen. Siehe dazu für die Wahlperiode 2017-2021: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestag-diese-abgeordneten-stimmen-oft-gegen-die-eigene-fraktion-a-1279893.html; für die Wahlperiode 2013-2017: https://www.welt.de/politik/deutschland/article151296429/Abnicker-oder-Rebell-Wer-ist-was-im-Bundestag.html; für namentliche Abstimmungen der laufenden Wahlperiode: https://www.bundestag.de/abstimmung. Zelebriert wird nicht das Recht auf abweichende Abstimmung, sondern auf abweichende öffentliche Äußerung, seit 2021 insbesondere das vermeintliche Recht auf Beschimpfung der eigenen Partei.

[33] Zu nennen wären z.B. die gesamte Debatte um das Verhältnis von Anerkennung und Umverteilung (s. Nancy Fraser und Axel Honneth, Umverteilung oder Anerkennung, Frankfurt/M. 2003) oder die Debatte um einen post-nationalen Gerechtigkeitsbegriff (s. Anja Weiß, Soziologie globaler Ungleichheiten, Frankfurt/M. 2017); die gesamte Diskussion um die Bedeutung unterschiedlicher Kapitalformen im Anschluss an Bourdieu, oder den wieder stark aktuell gewordenen Ansatz von Rawls; die für die Linke besonders relevanten Fragen zum Verhältnis von Klasse, sozialer Schichtung und Mobilität. Es gibt nicht einmal eine Position dazu, warum der Gerechtigkeitsbegriff der Occupy-Bewegung („Wir sind die 99%“) nicht funktioniert. 

[34] Die Krise der Sozialdemokratie meint einerseits die Schwierigkeit sozialdemokratischer Parteien, im politischen Feld links der Mitte die führende Kraft zu bleiben; andererseits die Schwierigkeiten dieses gesamten Feldes, eigene politische Mehrheiten zu bilden; drittens das Verschwinden „sozialdemokratischer“ Elemente aus der Politik des bürgerlichen Parteienspektrums. In Summe ist das der Verlust der hegemonialen Stellung der sozialdemokratischen Strategie. Natürlich gibt es eine Vielzahl von Erklärungen. Einen guten Überblick gibt Frank Bandau: Was erklärt die Krise der Sozialdemokratie? Ein Literaturüberblick, Politische Vierteljahreszeitschrift, Vol. 60, Nr. 3, September 2019; der Artikel behandelt auch die Frage, welche dieser Erklärungen sich bislang wissenschaftlich stützen lassen. Eine englische Fassung ist online zugänglich hier: Frank Bandau: What Explains the Electoral Crisis of Social Democracy? A Systematic Review of the Literature, Government and Opposition, Band 58, 1/2023, https://www.cambridge.org/core/services/aop-cambridge-core/content/view/88538417C2898B69CF2F79D35B1DA855/S0017257X22000100a.pdf/what_explains_the_electoral_crisis_of_social_democracy_a_systematic_review_of_the_literature.pdf. Im Kontext der linkssozialistischen Kritik sind die „materialistischen“ Erklärungsansätze natürlich die interessantesten.

[35] Erik Olin Wright: Understanding Class, New York und London, 2015. Eine leicht gekürzte Version des hier angesprochenen Schlusskapitels ist online verfügbar: Class Struggle and Class Compromise in the Era of Stagnation and Crisis, 2011, https://www.versobooks.com/en-gb/blogs/news/4431-class-struggle-and-class-compromise-in-the-era-of-stagnation-and-crisis

[36] Wright, Understanding Class, a.a.O.

[37] „Negative Klassenkompromisse“, so Wright, enthalten keinen Anteil von Win-Win-Situationen, sondern spiegeln einfach gesellschaftliche Kräfteverhältnisse in der Auseinandersetzung wider.

[38] Jöran Klatt hat darauf hingewiesen, dass die Spannungen zwischen diesen beiden Antworten sich nicht nur in der LINKEN finden lassen, sondern genauso bei SPD und Grünen. Jöran Klatt: In Konflikten vereint. Eine populäre Ausrichtung als Grundlage für Rot-Rot-Grün, in: PerspektivenDS. Zeitschrift für Gesellschaftsanalyse und Reformpolitik, Jg. 38, Heft 1, 2021, S. 39 ff.

[39] Linke gesellschaftliche Mehrheiten sind ohne Bündnisse mit fortschrittlichen, veränderungsbereiten Teilen der Mittelschicht nicht möglich. Mehrheitsfähige Bündnisse von „Modernisierungsverlieren“, da sie nur unter Einschluss reaktionärer Kapitalfraktionen und von sozialen Gruppen, die hierarchische soziale Privilegien verteidigen, möglich sind, können dagegen nicht links sein.

[40] In einer Welt mit sich angleichenden Produktionsbedingungen (was das Ergebnis der Enträumlichung durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie der nachholenden Entwicklung in den ehemaligen Schwellenländern ist) kommt es zunächst zu einer räumlichen Neuordnung der globalen Produktion – das ist das Wesen der Ära des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Wenn diese räumliche Neuordnung abgeschlossen ist, erschöpft sich die Dynamik dieser Phase. Damit tritt eine Situation ein, wo „normale“ Profite durch einen starken Wettbewerbsmarkt begrenzt sind, das alte Problem der fallenden Profitrate. Maßgeblich für die globale Konkurrenz von Regionen und Standorten wird dann die Fähigkeit zur Innovation. Überdurchschnittliche Wohlstandsniveaus lassen sich nur halten oder erreichen, wenn Regionen oder Standorte etwas produzieren können, was so schnell niemand anders produzieren kann. Das Problem der Innovationskonkurrenz stellt sich nicht nur für die alten Industriestaaten, sondern auch für neu entwickelte Industriestaaten wie China, die auf hohe Wachstumsraten angewiesen sind, die sie auf „normalem“ Wege immer weniger halten können. Die Alternative sind Strategien, die den globalen Markt begrenzen, was sich gegen die Produktivkraftentwicklung richtet und daher erfahrungsgemäß auf Dauer nicht haltbar ist; oder Strategien der Inwertsetzung von Rohstoffen, was erfahrungsgemäß für eine integrierte Entwicklung nicht ausreichend ist.

[41] Eine starke Rolle des Staates auch in der Ökonomie, eine „missionsorientierte“ Politik mit politisch gesetzten Investitionszielen, die Fähigkeit Veränderungen auch gegen Trägheit und Unmittelbarkeitsinteressen der Kapitalseite durchzusetzen, ein Sich-Kümmern um „weiche“ Standortfaktoren: All das fällt linken Parteien qua DNA spontan leichter als bürgerlichen Parteien. Umgekehrt ist es für bürgerlich-konservative Parteien in dieser Phase zwar leicht, Unzufriedenheit und Ängste zu mobilisieren, aber schwer, handlungsfähige Regierungsmehrheiten zu bilden.

[42] Beispielsweise sind die bisherigen Instrumente nicht ausreichend, um die zunehmende Abkoppelung der unteren Einkommenshälfte bei der Verteilung des gesellschaftlichen Einkommens zu bekämpfen. Gleichzeitig gibt es angesichts der hohen Mobilität von Kapital und Arbeit objektive Grenzen der Umverteilung durch Lohnabschlüsse oder das Steuersystem. Innovative Ansätze können sich z.B. auf die Umverteilung des Dividendeneinkommens wenig innovativer Wirtschaftsbereiche richten, etwa durch die Verstaatlichung von großen Wohnungskonzernen nach dem Berliner Modell (Umverteilung durch Kostensenkung), oder über ein partielles Grundeinkommen aus großen Staatsfonds (nach dem Vorbild von Norwegen oder Alaska).

[43] Das sieht man auch daran, dass die logischen Gegenpositionen zu den drei Ansätzen: Akzelerationalismus, Technokratie und Maschinenstürmerei, in einer linken Partei keine Berechtigung haben können.

[44] In Bremen sind z.B. Rekommunalisierung oder Tarifbindung klassisch linkskonservative Elemente, die verbesserte Unterstützung von Selbsthilfeprojekten oder das Eintreten für eine nicht-repressive Geflüchteten-Politik eher bewegungslinke Elemente. Die öffentliche Erzählung wiederum ist dominiert von der Formel „Modernisierung und soziale Gerechtigkeit“, also einer transformatorischen Botschaft, während Reformprojekte wie der Ausbildungsfonds oder die quartiersnahen Infokampagne Zugänge für alle drei Strategien bieten. Dieses Muster findet sich auch in der Politik von Landesverbänden wie Berlin oder Thüringen, oder dort wo Bürgermeisterwahlen gewonnen werden. 

[45] Das gilt auch für die Debatte um eine aktualisierte und erneuerte demokratisch-sozialistische Perspektive für die Überwindung der Kapitaldominanz, einschließlich der kritischen Aufarbeitung gescheiterter oder abzulehnender Versuche. Ohne eine moderne und attraktive Vorstellung, womit man über den Kapitalismus historisch hinausgehen kann, kann eine linkssozialistische Partei auf Dauer nicht auskommen.

[46] Tatsache ist, „dass die Arbeiterklasse heute eine soziodemografisch vielfältige Gruppe ist und ein breites Meinungsspektrum vertritt, das sich nicht auf autoritäre und nativistische Einstellungen beschränken lässt“ (Tarik Abou-Chadi, Reto Mitteregger, Cas Mudde: Verlassen von der Arbeiterklasse? Die elektorale Krise der Sozialdemokratie und der Aufstieg der radikalen Rechten, Berlin 2021, http://library.fes.de/pdf-files/a-p-b/18075.pdf). Kritik an einer idealtypisch vorgeführten Lifestyle-Linken ist okay für einen polemischen Essay. Als strategische Grundlage einer linken Partei ist sie gegenstandslos und inakzeptabel, denn sie beinhaltet eine klassistische Abwertung der Arbeiterklasse als egoistisch, lernunfähig, monolithisch und unfähig, über rebellisch-autoritäre Haltungen hinauszukommen.

[47] Man kann Jan Feddersen nur frontal widersprechen, der sich von einer Liste Wagenknecht endlich ein probates Heilmittel gegen die AfD verspricht (Jan Feddersen: Gründet euch endlich!, taz 15.08.2023, https://taz.de/Plaene-fuer-neue-Partei-von-Wagenknecht/!5949949/). Das Beispiel der Bremer Wahlen zeigt eindringlich, dass ein Wechsel der AfD-Stimmen auf eine andere Partei an sich kein Gewinn ist, wenn es an den politischen Kräfteverhältnissen nichts ändert. Dass sie nicht in derselben Weise „naziatmosphärisch“ (Feddersen) auftritt wie die AfD, lässt sich auch von der BIW sagen, ist aber kein Beitrag zur Überwindung des radikalen Rechtspopulismus. Die politischen Kräfte im Feld Mitte bis Links werden die Aufgabe, der AfD Einfluss und Resonanz zu nehmen, nicht bequem an Wagenknecht oder ähnliche Projekte delegieren können, die den Rechtspopulismus einfach nachahmen.

[48] „Müssen Angebot für Plattenbau, Altbau und ländlichen Raum machen“. Interview mit Sören Pellmann, 11.08.2023, https://web.de/magazine/politik/linken-mdb-pellmann-angebot-plattenbau-altbau-laendlichen-raum-38514994

[49] „Ungleichheit in Deutschland so groß wie zu Kaiser Wilhelms Zeiten“. Interview mit Martin Schirdewan, 28.05.2023, https://web.de/magazine/politik/linken-chef-ungleichheit-deutschland-gross-kaiser-wilhelms-zeiten-38257718

Christoph Spehr ist Landessprecher von DIE LINKE. Bremen sowie promovierter Historiker und Buchautor. Er sprach bei unserem rosalux jour fixe „Nach den Bremer Wahlen – Wo steht die LINKE?“ vom 28. Juni 2023 über das Thema dieses Artikels.

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